Autobiographie eines weißen cis-Mannes der Gen Y

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luisabella Avatar

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»Mein Leben lang hieß es, ich könne alles schaffen, solange ich mich nur genug anstrenge. Oft genug hatte das gestimmt. Oft war das ein guter Antrieb. Hätten wir bloß nicht die Kehrseite genauso verinnerlicht. Wenn wir es nicht schafften, konnte das nur eines heißen: Wir hatten versagt.« (S. 200)

»GEILE ZEIT — Autobiographie einer Generation« ist das Memoir des Journalisten, Reporters und Autors Niclas Seydack. Der 1990 geborene Wahl-Münchener & Nordlicht, schreibt basierend auf seinen eigenen Erfahrungen und dem Weltgeschehen über das Aufwachsen als Gen Y / Millenials [= alle Menschen, die zwischen 1980-1999 geboren worden sind] in den 1990er / 2000er Jahren.

Dabei schreibt er darüber, welche und wie Krisen uns Millenials früh geprägt haben, wie z. B. Terroranschläge — insbesondere 9/11, Tsunami 2004, Amokläufe an bspw. Schulen weltweit, Nah-Ost-Konflikt, Kriege und Finanz- & Wirtschaftskrise bis zur Corona-Pandemie. Es werden ebenso — aus heutiger Sicht — toxische Glaubenssätze der Leistungsgesellschaft als auch der 00-Jahre (Frauen-Klischees, Pornos etc.) betrachtet.

ALL IN ALL ist ein interessantes Memoir, in dem Niclas Seydack Lesende mit durch die Jahrzehnte nimmt. Als Millenial erkenne ich die ein oder andere Situation wieder. Nichtsdestotrotz finde ich den Untertitel »Autobiographie einer Generation« unpassend, da viele Situation extrem männlich geprägt sind und nicht allgemein-gültig sind (was der Untertitel aber suggeriert) und viele Privilegien nicht reflektiert werden. Bspw. habe ich NIE mit meinen Freundinnen bestimmte Filme hin- und heugetauscht. Aber das ist nur ein Beispiel von vielen, die für mich nicht zwangsläufig übertragbar und sehr männlich sind. Zudem wird mir die Grenzüberschreitung bei vielen Situationen aus der heutigen Rückschau zu wenig kritisiert und dadurch zu viel einfach reproduziert. Zwar gibt es einmal kurz Kritik zum NSU-Prozess, das hätte ich mir aber deutlich mehr gewünscht.

Insgesamt sehr passend finde ich Beobachtungen, wie die Folgende:
»Wir haben diesen Unsinn nie gefilmt. Unsere Nokia 3310 konnten das nicht. Und darin lag seine besondere Schönheit. Alles, was wir erlebten, war reine Gegenwart. Dokumentiert nur in unserer Erinnerung, wo es durch das Wieder-und-wieder-Erzählen immer größer und schöner und wichtiger wurde, als es jemals in echt gewesen sein konnte. Wir waren da, an dem Ort, in dem Moment. Und nirgends sonst.« (S. 76)

ALL IN ALL: Ein unterhaltsames, interessantes und sehr individuell emphatisches Memoir, das sicherlich seine passende Leser*innen-schaft finden wird.