Von Matroschkas, Käse und Lebenslügen

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Es gibt Worte, die haben eine klar definierte Bedeutung. Ganz gleich, mit welcher Betonung, in welchem Kontext und mit welcher Mimik man sie spricht. „Genug“ gehört nicht zu diesen Worten. Wie auch Louise Juhl Dalsgaards Buch „Genug“ nicht zu den klar definierten Romanen gehört.

Länge ist keine Maßeinheit von Güte

Mit 191 Seiten ist Dalsgaards Roman „Genug“ nicht gerade lang. Auch sind die Seiten nicht besonders breit oder hoch, eher schmal und klein. Manche Seiten sind nur halb beschrieben, manchmal nur zu einem Viertel. Und dennoch hat „Genug“ ganz viel zu sagen.

Die Protagonistin würde gerne „Feuer und Pisse“ erleben. Stattdessen schreibt sie auf den Zettel „... gesund leben, Sport treiben ...“ Am Ende funktioniert sie. In typografisch abgesetzten Abschnitten ergänzen Auszüge aus der „Krankenakte“ die Erzählung der Protagonistin. Sachlich, kühle, distanzierte Beschreibungen über sich selbst.

Meine Mutter liebt Käse und ist eine Matroschka

Mit „Genug“ hält uns Dalsgaard vor Augen, wie wir Menschen uns selbst belügen. Wie wir aus unserem Leben eine Ansammlung unerfüllter Wünsche, Kompensationen, Kompromisse machen, wie wir die Wahrheit zerquetschen, verniedlichen, ignorieren, verleugnen.

Sie schreibt, „das meine Mutter eine russische Puppe ist, gefüllt mit sich, gefüllt mit sich, gefüllt mit sich ...“ Und dass die Mutter Käse liebt. Mit Kreide einen Strich durch das Haus zieht, und damit den Vater zurechtweist.

Als die Protagonistin dem Vater erzählt, dass sie gerne in einem Straßengraben liegen würde und ihre Träume per Anhalter auf die Reise schicken würde, ist er nur besorgt. Und irgendwie geht es ihr wie dem Onkel, der mit Sklerose geboren wird. Gefangen in einer Hülle.

Lügen tun nicht so weh


Eltern tun ihren Kindern nicht immer gut. Hungern ist nur eine Art des Protests. Louise Juhl Dalsgaard lässt uns Leserin und Leser mit „Genug“ mit einem weiten Feld zurück, über das wir nachdenken können. Das Umklappen der letzten Seite empfand ich wie einen Verlust. Leben geht bequemer mit Lügen. Aber selbst das machen wir uns doch nur vor, oder?

Louise Juhl Dalsgaard: Genug
Picus Verlag 2021
Aus dem Dänischen von Gerd Weinreich
191 Seiten, Hardcover