Kammerspiel auf dem Meeresgrund

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Die Ozeane sind in vielerlei Hinsicht für uns Menschen von Bedeutung. Sie bieten Nahrung, dienen dem Vergnügen, sind Forschungsorte, aber auch Kriegsschauplatz, Müllkippe und Grab.

Die Autorin und Künstlerin Root Leeb nimmt uns mit, tief hinunter auf den Meeresgrund des Mittelmeers. Dort treffen wir drei Tote: zwei Männer, eine Frau - der Eine, der Andere und die Dritte. Die drei tauschen sich darüber aus, was mit ihnen geschah, wie es nun weitergehen kann, ob es überhaupt weitergeht. Die drei auf dem Meeresgrund Gestrandeten nehmen gegenseitig alle Hoffnungen, Ängste, Fragen und Erinnerungen wahr. Sie können ihre intimsten Gedanken nicht verstecken, nicht verhindern, dass die anderen sehen, was ihnen zugestoßen ist und welche Empfindungen sie dabei hatten. Auf diese Weise durchleben sie nicht nur Momente des Glücks, der Wut, des Schmerzes, der Sorge und der Trauer, sondern auch Scham und Bedauern. Schnell werden die sehr unterschiedlichen Voraussetzungen und Lebenserfahrungen der drei deutlich. Unterbrechungen der „Gespräche“ entstehen durch vorbeifahrende Kreuzfahrtschiffe, Suchtrupps, Explosionen, aber auch durch das Geplauder von mythologischen Wesen. Poseidon und auch eine Gruppe von Meeresnymphen haben ihre ganz eigenen Gedanken über die Menschheit, die immer wieder beiläufig in den Text einfließen.

Insgesamt reißt die Autorin viele Themen an: Kolonialismus, Rassismus, Flucht, die Schere zwischen Arm und Reich, Sexismus und die Ausbeutung der Natur sind nur einige davon. Immer geht es auch um die Würde des Menschen und seine Verantwortung. Den Beginn der nur etwa 150 Seiten umfassenden Erzählung habe ich gebannt gelesen. Die Idee, den vielen Namenlosen, die aus unterschiedlichen Gründen ihren Tod im Meer fanden, eine Stimme zu verleihen, hat mir sehr gefallen. Das Buch ist hochwertig verarbeitet und sehr schön mit Gemälden der Autorin illustriert.

Der Text bietet zahlreiche Denkanstöße in unterschiedlichste Richtungen. Root Leeb erzählt nüchtern und distanziert, spielt aber auch mit der Sprache. Als Manko habe ich empfunden, dass die Sequenzen aus dem Leben der drei Protagonist:innen sehr kurz sind. Obwohl auch dies Teil des Erzählkonzepts ist, haben mir die zahlreichen Sprünge und die sehr knappen Szenen den Zugang und eine tiefergehende Beschäftigung mit den zahlreichen wichtigen Themen erschwert. Eine Fokussierung hätte mir besser gefallen. Insgesamt zerfaserte die sehr gute Grundidee für mich an der Themenfülle. Setting und Thema der Erzählung gefallen mir außerordentlich gut, von der Umsetzung bin ich allerdings enttäuscht. Hier wurde in meinen Augen Potential verschenkt.