Essenz einer jungen, gebildeten Weiblichkeit

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Die introvertierte Frances (21) studiert am Dubliner Trinity College, schreibt Poetry und performt diese bei Spoken-Word-Veranstaltungen in Dubliner Pubs. Zusammen mit ihrer kontaktfreudigen Ex Bobby. So lernen die beiden jungen Frauen Journalistin Melissa (37) und deren gutaussehenden Mann (32) kennen. Während Melissa ein Porträt über das literarische Duo schreibt, lernen sich alle Vier kennen. Und lieben. Vergöttert Bobby Melissa, kommt Francis dem stillen Schauspieler Nick immer näher.

Die Handlung könnte abgedroschener nicht sein. Eine junge Frau verliebt sich in einen weit älteren Mann. Eine Affäre beginnt. Warum also handeln große Teile der Literaturwelt „Gespräche mit Freunden“ als den heißen Scheiß der Millennium-Generation? Warum sorgt das Debüt der Irin Sally Rooney (Jahrgang 1991) für solch ein Aufsehen?

So glasklar, dass Splitter fliegen

Rooneys gibt einer jungen Frau eine Stimme, die wir sonst nicht hören würden. Einer jungen Frau, die mit sich selbst nicht im Reinen ist. Die kein Ziel hat. Die hadert und zweifelt und ihren Weg nicht kennt. Die viel zu klug für die Welt ist und doch – oder gerade deswegen – unzulänglich im Umgang mit Menschen. Die sich abschirmt, unsicher ist und cool wirken will. Die Mauern baut, um nicht verletzt zu werden. Und sich weh tut, um sich zu spüren. Die denkt, nichts wert zu sein. Anti-Heldin Francis verkörpert die selbstzerstörerische Zerrissenheit der Jungend so treffend, dass es weh tut. So glasklar, dass Splitter fliegen.

Dabei ist es kein Zeitgeist. Junge, gebildete Menschen, die Zeit zum Denken und für Müßiggang besitzen, denken diese Gedanken in jeder Generation. Herrje, ich bin 40 und sah mein rauchendes 21-jähriges Ich mit Kommilitonen über soziale Ungerechtigkeit, intellektuelle Diskrepanzen und polyamorphe Liebe philosophieren. Die Ähnlichkeiten sind unheimlich. All die Gedanken, die Francis denkt, sind mir bekannt. Oder besser, sie waren mir bekannt. Denn die Zeit schliff die Kanten der Splitter rund. Fügte Scherben zusammen. Machte mich gnädiger und sanfter. Lässt mich netter über mich und die Menschheit denken. Meist. Auch Frances beginnt diese Entwicklung. Am Ende ihrer Erzählung. Was Rooneys Debüt zu einem klassischen Entwicklungsroman macht.

Fragt man die 1968er oder Zeitzeugen der 1920er, werden diese Ähnliches berichten können. Genauso wie die Erben wohlhabender Händler und die Kinder des Adels vergangener Jahrhunderte. Es war schon immer das Vorrecht der Jugend, alles besser zu wissen, als die Alten. Dennoch wirkt Frances Stimme frisch, fast revolutionär.

Zumindest die Frage, wie feministisch sie sein muss, wie sehr eine junge Frau den Mann an sich hassen „muss“, ist in ihrer Reichweite und Intensität eine Frage unserer Zeit.

Zu all den intellektuellen Problemen, die Frances als junge, moderne Frau mit sich herumträgt, gibt Rooney ihrer Protagonisten noch ein ganz reales weibliches Leiden mit auf den Weg. Endometriose – eine Krankheit, unter der immerhin 10 bis 15 % aller Frauen leiden.

Weckt Verständnis

So ist Frances die Essenz all der Herausforderungen, Reizüberflutungen, moralischer Bürden und Gender-Debatten, die heute über die Heranwachsenden der gebildeten, gutbürgerlichen Mittelschicht hereinbrechen.

Ich fand die Gedankengänge interessant; Frances Zerrissenheit glaubwürdig. Auch wenn ich mich während des Lesens überwiegend zu alt für die Lektüre hielt, zu weit weg, weckte sie doch Verständnis für die jungen Frauen von heute. Weckte Erinnerungen an mein jüngeres Ich. Auch wenn ich dieses jüngere Ich heute gerne schütteln würde und ihm sagen möchte: „Denk nicht so viel. Das Leben wird es fügen. (Und man, wärst Du fasziniert, was aus Dir werden wird…)“
Schriftstellerisch ist Rooney ein Naturtalent. Auch wenn mich die Ich-Erzählweise mit der konsequenten indirekten Rede anstrengte: Die Metaphern reiche Sprache ist ein Genuss. Durch Frances Gedanken zu blättern erschreckend beklemmend und authentisch.

Und so schwer die Kost sein könnte, so leicht ist sie dann doch. Leicht fließen die „Gespräche mit Freunden“ dahin und wir belauschen sie dabei.