Allzu Menschliches in unmenschlicher Zeit

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REZENSION – Schon unzählige Romane haben sich der von der Nachkriegsgeneration wiederholt gestellten Frage gewidmet, wie sich der Nationalsozialismus in Deutschland fast widerstandslos hat ausbreiten und schließlich seine Macht grenzenlos hat ausweiten können. Wie konnte es nur soweit kommen? So gesehen, ist dieses Thema, das Arno Frank für seinen im Februar beim Klett-Cotta Verlag veröffentlichten Roman „Ginsterburg“ gewählt hat, keineswegs neu. Doch anlässlich 80. Jahrestags des Kriegsendes und angesichts des nach drei Generationen gefährlich erstarkenden Rechtspopulismus bekommt diese Frage eine aktuelle Brisanz.
„Wie konnten Menschen so unberührt bleiben vom Gang der Dinge? War es so einfach, sich im Gleichschritt zum schweren Tritt der Zeit zu bewegen? Nicht einmal aus bösem Willen, einfach aus Instinkt?“, fragt Uta, die ihren jüdischen Ehemann in Berlin in den Kellern der Gestapo verlor. Autor Arno Frank gibt seine Antwort in der Schilderung des in die drei Zeitabschnitte 1935, 1940 und 1945 aufgeteilten und sich schleichend verändernden Alltagslebens einfacher Bewohner der in tiefster Provinz gelegenen fiktiven fränkischen Kleinstadt Ginsterburg. Hier beginnen manche zu verstummen, andere passen ihre persönlichen Überzeugungen allmählich dem „Mainstream“ an, wandeln sich zu Mitläufern und Opportunisten oder machen sogar Karriere im totalitären System. So oder so gilt für alle, sich mit der neuen Ordnung irgendwie zu arrangieren. Dabei suchen viele den Weg des geringsten Widerstands.
So wird der vormals politisch unabhängige Blumenhändler Otto Gürckel plötzlich zum Kreisleiter, ohne ein überzeugter Nazi zu sein: „Politische Großwetterlage! Otto nickte meistens nur gewichtig, wenn es um die großen Fragen ging, und stimmte ansonsten stets der letzten geäußerten Meinung zu. Damit war er bisher gut gefahren.“ Der Feuilletonist der Lokalzeitung, Eugen von Wieland, der lange versuchte, seine politische Unabhängigkeit zu bewahren, kann nach dem Selbstmord seines jüdischen Herausgebers Landauer, der in der städtischen Öffentlichkeit kaum Beachtung findet, und der überstürzten Flucht von dessen Familie dem verlockenden Angebot des Kreisleiters nicht widerstehen, Schriftleiter der Zeitung zu werden und das repräsentative Landauer-Haus zu bekommen. Auch Buchhändlerin Merle entkommt der neuen Ordnung nicht, muss sie doch ständig darauf bedacht sein, anhand neuer Listen immer wieder Bücher aus ihrem Sortiment zu nehmen. Ihren Sohn Lothar konnte sie anfangs noch von der Hitlerjugend fernhalten, doch nur dort schafft er es, sich seinen Traum vom Fliegen zu erfüllen. Zum wirtschaftlichen Profiteur des Regimes wird als größter städtischer Arbeitgeber der Papierfabrikant Jungheinrich, da der übersteigerte Bürokratismus des Regimes für sein Formularwesen immer mehr Papier verlangt, und der beliebte Hausarzt Hansemann bekommt im Osten die unerwartete Chance, seinem Drang als Wissenschaftler nachzugehen und medizinischen Studien zu betreiben. Doch am Ende bleibt die Erkenntnis des als Held des Ersten Weltkriegs gefeierten 90-jährigen Leberecht von Wieland, der aus seiner Lethargie erwachend feststellt: „Mir will einfach nicht mehr einfallen, welchen Sinn alles gehabt hat.“
Die Schilderung des Werdegangs ausgewählter Einwohner Ginsterburgs zeigt eindrucksvoll die schleichende Veränderung der Gesellschaft und die Auswirkungen der NS-Ideologie auf den Einzelnen. Dabei verzichtet der Roman ganz bewusst auf herausgehobene Figuren und unterstreicht gerade dadurch die Anpassungsfähigkeit der Menschen in schwierigen Zeiten, zugleich aber auch die Komplexität unterschiedlichen menschlichen Verhaltens unter einem totalitären Regime.
Das Alltagsleben eines normalen Menschen ist nicht voller Höhepunkte. Nicht jeden Tag geschieht Aufregendes. So mag mancher Leser vielleicht Aktion und Spannung im Roman vermissen. Doch gerade die Bescheibung dieses Alltäglichen im Wandel der Zeit ist es, das die „Banalität des Bösen“, wie die amerikanische Publizistin Hannah Arendt es im Jahr 1963 als Beobachterin des Eichmann-Prozesses formulierte, sowie die für den einzelnen Menschen schleichende, anfangs noch unauffällige Veränderung des Alltags besonders deutlich zum Ausdruck bringt. In seinem lesenswerten Roman verzichtet Arno Frank auf einseitige Schuldzuweisungen. Stattdessen zeigt er das sehr differenzierte Bild einer Gesellschaft, die sich schrittweise an den Nationalsozialismus gewöhnt.