Anders als erwartet

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bluesjj Avatar

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Ich bin ganz ehrlich, die Leseprobe vorab und folgender Satz im Klappentext „Ein mitreißendes und bewegendes Kleinstadtepos über Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten“ haben mich eine andere Art der Geschichte erwarten lassen. Denn, was ich in erster Linie unter Menschlichkeit verstehe, nämlich Mitgefühl, aufeinander achtgeben, Empathie, Hilfsbereitschaft, fand in dieser Geschichte so gut wie keinen Raum. Stattdessen zeigten die Einwohner von Ginsterburg fast nur die Abgründe ihres menschlichen Handelns. Entweder man versuchte krampfhaft, die Normalität des Alltags beizubehalten, oder tat alles dafür, noch mehr Macht, noch mehr Besitz zu erlangen. Das alles ohne Rücksicht und mit jedem nötigen Mittel. Das Leid anderer wurde problemlos akzeptiert oder schamlos ausgenutzt. Menschlichkeit? Fehlanzeige! Und so waren die zahlreichen Protagonisten in dieser Geschichte eben keine Sympathieträger, sondern erinnerten an herzlose Hüllen.

Und genau an diesem Punkt entstehen für mich zwei Probleme.
1. Für ein mitreißendes und bewegendes Kleinstadtepos über Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten hätte es zumindest einen Gegenpol gebraucht. Ein paar Figuren, die eben doch Menschlichkeit zeigen und gegen den Strom dieser Stadt schwimmen. Oder es zumindest versuchen.
2. Wenn ich „herzlose Hüllen“ schreibe, wirkt das auf mich fast schon wieder zu nett, zu entschuldigend. Denn ein solches Verhalten ist nicht zu entschuldigen. Die Menschen waren nicht nur Mitläufer, die keine andere Wahl hatten, die fremdgesteuert waren. Nein, sie haben bewusste Entscheidungen getroffen. Sie haben gewählt. Was all diese Entscheidungen auf andere Menschen für eine Auswirkung hatten, erfährt man in diesem Buch leider meist nur am Rande.

Dabei ist der Schreibstil eigentlich echt interessant. Sehr nüchtern, unaufgeregt, nicht wertend, sondern einfach nur beobachtend. Schlagartig wechselt Szene mit Szene, Protagonist mit Protagonist. Dass bei dieser sehr hohen Schlagzahl keine wirkliche Tiefe entsteht, ist nicht verwunderlich. Der Leser kann so gar keine Verbindung zu den Protagonisten aufbauen – und soll es wahrscheinlich auch nicht. Denn im Grunde sind sie austauschbar. Ihr Handlungen sind in der Zeit des Nationalsozialismus in dieser oder ähnlicher Weise unzählige Male passiert. Und obwohl man das weiß und einem bewusst ist, welche Folgen diese Handlungen hatten, entstehen beim Lesen keine wirklichen Emotionen. Denn das Buch ist eben nicht bewegend und mitreißend. Und das wäre auch völlig okay. Wenn der Klappentext nicht etwas anderes suggerieren würde.

Ich habe vorhin in einer Rezension gelesen, dass das Buch unbedingt im Schulunterricht gelesen werden sollte. Jein! Ja, Bücher dieser Thematik sind gerade wichtiger denn je. Allerdings ist dieses Buch nicht selbsterklärend. Ob das Buch in den Unterricht passt, kommt hier meiner Meinung nach ganz klar auf die Lehrkraft an, denn hier braucht es eine intensive und kreative Unterrichtsbegleitung. Angefangen damit, dass wichtig ist, dass es im Buch neben den fiktiven Charakteren eine ganze Reihe von Protagonisten gibt, die auf realen Vorbildern beruhen. Bis hin zum Verhalten der Einwohner und den Dingen, auf die die Handlung eben nicht oder kaum eingeht.