"und sehn betroffen, den Vorhang zu und alle Fragen offen"

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Ginsterburg ist eine kleine Stadt mit historischem Kern (n)irgendwo in Deutschland. Mosaikartig entfalten sich vor des Lesers Augen Lebensausschnitte unterschiedlicher Bewohner: des jungen Lollo mit seiner Passion fürs Fliegen und seiner Mutter, sozialistisch ausgerichteter Buchhändlerin, des Journalisten und späteren Schritleiters Eugen nebst erkalteter Gattin und entflammter Tochter, den zarte Bande mit Merle verbinden. Und kameradschaftliche mit dem Blumengroßhändler und frisch ernanntem Keisleiter Otto Gürckel mit den Zwillingen Knut und Bruno, strammen Hitlerjungen, und ohne Ehefrau, die ihn wegen eines „Goldfasans“ in Berlin hat sitzen lassen. Sowie mit Clemens Jungheinrich, Papierfabrikant, zuerst für Bücher, dann für Granatenanzünder. Alle drei alte Frankreich-Überlebende aus dem ersten große Krieg. Und dann gibt es noch den Militärarzt Gustav Hansemann, dessen Einsatzgebiet sich aber zunehmen nach Osten verlagert. Daneben noch eine Figuren Nebenpersonal, Nachbarn, Freunde usw. Anhand von drei Stichproben aus der Zeit des 1000jährigen Reiches: Aufstieg 1935, Höhpunkt 1940 und Fall 1945 zeigt Arno Frank, wie es den Bewohnern ergeht: aus den Kindern werden Kriegshelden oder -opfer, aus den Politikern und Industriellen werden Profiteure und Kriegsgewinnler, denen aber private Tragödien nicht erspart bleiben, manch einer macht Karriere im Reich, andere verlieren ihre Existenz oder auch ihr Leben. Schon in der scheinbaren Idylle im Jahre 1935, als alles noch ganz harmlos schien und es so langsam wieder aufwärts ging mit dem von Ersten Weltkrieg gebeugten Deutschen Reiches, tauchen Vorahnung auf das bevorstehenden Grauen in einzelnen lakonischen Sätzen auf. Auch 1940 ist der Krieg wenig präsent in Ginsterburg. Er dringt eher in Form von Meldungen über Heldentaten an die Bewohner. Auch wenn der Held dann auch den Heldentod gestorben ist. Die Verbrechen, die den Aufstieg des Deutschen Reiches begleiten, werden mehr angedeutet als ausgeführt. Da verschwinden schon mal Familien oder eine mit einem Juden verheiratete Schwester muss aufgenommen werden. Hansemann, der Arzt, der so gerne Experimente durchführt, hat viel zu tun im Osten, was genau, bleibt ausgespart, aber denkbar. Ab und an schleicht sich ein leiser Zweifel ein bei dem ein oder anderen, wird aber nicht lauter. Und 1945 geht dann alles ganz schnell. Die einen feiern noch die letzten Orgien vor dem Fall und dann schreitet Gott mit lautem „Bumbumbum“ durch das Paradies Ginsterburg auf der Suche nach den sündigen Menschen, die sich versteckt haben, weil sie etwas Verbotenes getan haben. Auch Ginsterburg geht unter wie der Rest des Reiches. Und wie im Rest des Reiches sterben auch die Unschuldigen und die Opfer und überleben die Schuldigen und tauchen ab im allgemeinen Untergang, tauchen später in der Geschichte vielleicht wieder auf als ehrenwerte Namensgeber von Schulen oder bleiben spurlos verschwunden. Und deshalb ist der Krieg schlimmer als die Hölle, denn er trifft Sünder und Unschuldige gleichermaßen und ohne erkennbares Muster.
Arno Frank erzählt in gewohnt begeistertem Stil, der den Leser leicht durch Schweres und Tiefgehendes führt. Franks Figuren sind menschlich, keiner ist gut, schillernder Held, oder widerwärtig und böse, der reine Antagonist. Jeder hat eine eigenen Geschichte, macht Fehler, tut Gutes, erfährt Gutes und erleidet Schlimmes. Menschlich, allzu menschlich sind die Figuren. Und die Menschen sind eben gut und böse, die einen mehr, die anderen weniger. Gerade hinter dem Menschlichen verbirgt sich auf die Unmenschlichkeit, der Abgrund, der sich in Franks Erzählung zwischen den Zeilen manchmal auftut und in einzelnen Sätzen. Sein leises, feines Erzählen kommt ohne gewaltige Bilder, übermächtiges Grauen und große Gebärde aus. Dafür bleibt es lange im Kopf, lässt lange die Gedanken über das Gelesene nachdenken. Und doch nicht so ganz begreifen. In dem Figurenmosaik fällt es bisweilen schwer, den Faden der einzelnen Figuren zu verfolgen. Es ist dem Leser nicht vergönnt, bei einer zu verweilen, sich einzudenken und -zufühlen. Viele Fragen bleiben am Ende offen: Was wird aus Lollo und seiner Jugendliebe, Eugens Tochter? Was wird aus Kreisleiter Gürckel, was aus seiner mit der Haushälterin türmenden Frau? Was aus dem Arzt Hansemann, der kurz vor dem Untergang wieder in Ginsterburg auftacht? Welche Ginsterburger findet Gott mit seinem „Bumbumbum“ im Padadies? Wer kommt davon? Wofür steht der blaue Fuchs, der Uta Mohelsky am Ende den Weg „nach Hause“ zeigt? Welche Funktion hat der Wanderzirkus mit der Weissagerin Zola Vovoni, die in Anbetracht, was sie in der Zukunft der Ginsterburger sieht, verrückt wird? Sind diese Fragen überhaupt wichtig?
Vielleicht nicht, aber offene Fragen am Ende sind oft schwer auszuhalten.
Am Modell, quasi en miniature, zeigt Frank ein beeindruckendes Bild des Gesamtdeutschen Reichs in seinen drei Etappen, des 1000jährigen Reichs, das innerhalb von 12 Jahren Aufstieg, Höhepunkt und Untergang hingelegt hat und dabei ganz unterschiedliche Gesichter seiner Bewohner zum Vorschein gebracht hat. Es geht mehr um das Schildern und das Beobachten von Entwicklungen, von Schicksal, Fügung, Glück und Unglück, von Plänen und Zufällen, weniger um das Bewerten und Urteilen von Gut und Böse. Am Ende nach gefallenem Vorhang sieht sich der Leser mit vielen offenen Fragen, ohne tragischen Helden und ohne Moral von der Geschicht.