Eindimensional

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bücherfreund54 Avatar

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Von dem griechischen Philosophen Aristoteles stammt eine Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Literatur. Während die Geschichtsschreibung aufschreibe, „was war“, stelle die Literatur dar, „was gewesen sein könnte“. Für Aristoteles ist damit die Literatur „genauer“ als die Geschichtsschreibung.
Am Beispiel des Romans „Ginsterhöhe“ von Anna-Maria Caspari lässt sich die Unterscheidung deutlich machen. Die Geschichtsschreibung weiß nicht viel von dem Leben in dem Eifeldorf Wollseifen in der Zeit zwischen 1919 und 1946, in der der Roman spielt. Bekannt ist der wirtschaftliche Aufschwung durch den Bau einer Talsperre und später dann durch den Bau der Nazi-Ordensburg Vogelsang. Wie aber das Verhalten der Einwohner gegenüber den Zeitumständen war, lässt sich an Hand von geschichtlichen Quellen kaum ein rekonstruieren. In diese Lücke stößt nun der Roman, indem die Autorin sich vorstellt, wie es in dem Dorf gewesen könnte. Ein spannendes Projekt, dessen Ausführung aber den kritischen Leser nicht zufriedenstellen kann.
Die Figuren sind eindimensional gezeichnet: Von ihrem ersten Auftreten an steht fest, wer „gut“ ist und wer „schlecht“. Irgendeine Entwicklung der Persönlichkeit findet nicht statt. Weiterhin eindimensional ist die Handlungsführung: Nach Lektüre der ersten 30 Seiten ist überwiegend klar, wie die Handlung verlaufen wird. Für den Leser überraschende Momente?Fehlanzeige!
Viel schwerwiegender aber ist die Eindimensionalität in der Darstellung der politischen Verhältnisse: Bis auf eine Ausnahme gibt es nur Opfer der politischen Verhältnisse und keine Täter. Bezeichnenderweise heißt es in dem Buchklappentext: „… bis die Nationalsozialisten in das Dorf einfallen“. Das Unheil kommt also von außen und keinesfalls aus dem Dorf selbst. Und der vermeintlich einzige wirkliche Nazi in dem Dorf wird von Anfang an als egoistisch, materialistisch, unsympathisch gekennzeichnet. Wirklich, nur so „böse“ Menschen können Nazis geworden sein. Der Rest der Einwohner verbleibt in politischer Apathie, lässt alles mit sich geschehen. Hierfür bezeichnend der Lehrer, dessen sehr kurze Tagebuchaufzeichnungen vereinzelt in die Handlung eingestreut werden, die aber entweder einzelne politische Ereignisse unkommentiert aufzählen oder aber eine fatalistische Einstellung zeigen. Und auch die Hauptperson, die die Gräuel des Ersten Weltkrieges buchstäblich am eigenen Leib gespürt hat, erhebt seine Stimme nicht gegen den Zweiten Weltkrieg.
Ein Jugendlicher, der vielleicht noch nicht über Detailkenntisse der Nazi-Zeit verfügt und der diesen Roman liest, wird eine äußerst ungenaue Vorstellung von dieser Zeit bekommen.
In einigen Vorab-Rezensionen ist der Roman als „einfach“ zu lesen gelobt worden. Ja, das ist er, aber das ist kein Kompliment.