Kerniger Bildungsroman

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alasca Avatar

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„Gipskind“ ist die Geschichte einer erstaunlichen Selbstermächtigung. Erstaunlich insofern, als eine Kindheit in einer lieblosen, ungebildeten Familie, obendrein mit Behinderung, für gewöhnlich nicht zu Erfolgsgeschichten führt. Aber Andrea, lange nur „die Kleine“ genannt, boxt sich durch.

Sie wird mit einer Fehlstellung der Hüfte geboren, die ihr Krankenhausaufenthalte, einen Gipspanzer und die Enttäuschung ihrer Familie über das im bäuerlichen Betrieb nutzlose „Kretinl“ einbringt. Sämtliche pädagogische Sünden der Sechzigerjahre muss sie über sich ergehen lassen, ich fühlte mich sehr erinnert. So glaubt man, Besuchtwerden im Krankenhaus würde ein Kind nur verzärteln. „Die Kleine“ hat ihre eigene Sicht der Welt und lässt sich kein X für ein U vormachen. Ihre Eltern bringt das zur Weißglut. „Zuerst hätten sie alles getan, damit ein Mensch wird aus diesem verkrüppelten Kind, und dann möchte man es am liebsten umbringen, weil so ein Teufel geworden ist aus ihm.“ Der Gips dient als Symbol für die verkrusteten Verhältnisse, die Andrea beherzt aufbricht. Zum Glück gibt´s die Oma, die ihr versichert: „Dir trau ich alles zu.“

Die Geschichte wird meist aus Andreas Sicht und der ihrer Familie erzählt; die Autorin nimmt dabei eine auktoriale (allwissende) Perspektive ein. Der naiv-selbstbewusste Ton Andreas, das herzlose Zweckdenken der Mutter, die liebevolle Weltsicht der Großmutter – Kögl ist ganz nah dran. Dabei erzeugt sie durch Rhythmus und Satzstellung den Klang von Dialekt, ohne Dialekt zu schreiben, ein Kunststück an sich. Immer wieder gibt´s österreichische Vokabeln, die man nachschlagen muss; ich mag sowas. Dass Deutsch nicht gleich Deutsch ist! Ein Gewinn.

Als Andrea ihren Freund Arthur kennenlernt, öffnen sich ganz neue Perspektiven für sie. Der stammt aus bürgerlichem Milieu, der Vater Richter, alte Villa, eigener Weinberg. Kögl, und das ist die große Stärke dieses Romans, macht nicht den Fehler der Schwarzweißmalerei. Andrea erkennt überrascht, dass ihre Herkunft ein Bonus ist: nicht nur idealisieren Bauern das Stadtleben, Bildungsbürger romantisieren das Landleben. Wie Kögl die Milieus aufeinandertreffen und –wirken lässt, fand ich toll. Sie bereichern einander; die Begegnung führt, wenn auch widerwillig, zu veränderten Sichtweisen auf beiden Seiten.

Erste berufliche Erfahrungen relativieren auch so einiges. Weil Bauern als „zuverlässig“ gelten, siehe oben, findet Andrea schnell einen Ferienjob als Sekretärin, der Traumjob für ihre Mutter, die auf eine Festanstellung für sie hofft. Aber Andrea langweilt sich zu Tode; eine weitere Entzauberung der Stadtwelt. „Andrea ahnte, was sie ihrer Mutter vermieste. Aber deshalb ließ sie sich ihr Leben von der Mutter nicht vermiesen.“ Sie geht ihren Weg.

Kögls starker Bildungsroman hat trotz all der dargestellten Härten eine ungemein positive Grundstimmung und liest sich flüssig und spannend. Die kernige Andrea habe ich mit Vergnügen kennengelernt. Einzige Einschränkung aus meiner Sicht das glatte Happy End, das nicht zum authentisch rauen Ton der Erzählung passt. Dennoch sehr empfehlenswert – die Autorin werde ich mir merken.