Verdrehte Haxen stellen eine Welt auf den Kopf

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Als Problemkind wird sie eingestuft, als Kleinkind, das mit neun Monaten immer noch nicht aufzustehen beginnt, jedoch neugierig drauflosplappert und bald wissbegierig nach scheinbar nutzlosen Dingen fragt. Da die Eltern in ihr nicht die erwartete Arbeitskraft finden, begegnen sie ihr schroff und lieblos, allein die Oma sorgt für Geborgenheit und Nähe. Nur langsam findet das junge Mädchen schließlich heraus aus ihrer engen und begrenzten Welt, wobei sie nicht nur ihre Eltern vor den Kopf stößt.

Vom ersten Satz weg wird man als Leser hineinkatapultiert in die einfache und von der Umwelt bestimmte Familienwelt der „Kleinen“. Lange, bis hin zum zweiten Drittel hat das arme Kind gar keinen Namen, „die Kleine“ ist alles, was nötig ist, kann sie sich mit ihrer Behinderung, ihrem Problem mit Hüften und X-Haxen ja doch nicht so im Alltag einbringen, wie man es erwartet.

Sprachlich einzigartig schildert Autorin Gabriele Kögl das entbehrungsreiche Leben, den Fokus, der auf Arbeit ausgerichtet ist und darauf, was die Leute reden. Anpassung und Gehorsam bestimmen den Tagesablauf, den „die Kleine“ nur allzu oft durchbricht. Sie hat keine Angst vor den Watschen, „weil man dann alles tun kann, was man möchte.“ (Pos. 272) Das erkennt sie bald und erobert sich dadurch immerhin einen gewissen Stolz. Mit vielen typischen und regionalen Ausdrücken wird das Heranwachsen des Mädchens in ein authentisches Bild gepasst, auch wenn sie selbst sich nicht anpassen möchte. Durch die Zuneigung der Großmutter und ein gehöriges Maß an Gottvertrauen – ja, das ist unumgänglich, da wo die Kleine herkommt – erkennt sie instinktiv, dass ihr Weg ein anderer ist als der, dem Vorbild der Eltern zu folgen. Den Namen der Hauptperson erfährt man beiläufig, ebenso wie Ort und Zeit der Handlung erst allmählich anhand von gesellschaftlichen und politischen Ereignissen klar werden.

Sehr beeindruckend ist sie Schreibweise von Kögl, teils rau und harsch, ja beinahe derb, genau so, wie das Leben damals war. Keine Rücksicht hat man nehmen können auf jene, die sich nicht ins Räderwerk gefügt haben oder fügen konnten. Andererseits spürt man die Liebe der Großmutter, die innige Zuneigung, die das kleine Mäderl bestärken darin, sich „alles zutrauen“ zu können und ihr den nötigen Mut vermitteln, niemals aufzugeben.
Die Atmosphäre der Zeit ist außergewöhnlich gut eingefangen, fast könnte man meinen, die Autorin schreibt über reale Personen. Wenn nicht, dann ist alles mehr als glaubhaft erfunden und der historische Hintergrund fügt die Einzelteile nahtlos zusammen. Mit einer guten Prise Witz und Humor werden die Kinder- und Jugendjahre vom „wertlosen Mensch“, wie man hier so schön sagt, zu Papier gebracht und so hallt diese authentische und sozialkritische Milieustudie wohl noch einige Zeit nach.

Mit „Gipskind“ hat Gabriele Kögl ein Werk geschaffen, das unter die Haut geht, einerseits bedrückend, wie das Leben so sein kann, andererseits Mut und Hoffnung gebend, weil entlang der vermeintlich vorgezeichneten Schienen auch Weichen auftauchen, die man ganz individuell umstellen kann.

Eine Bereicherung für die österreichische Literaturlandschaft. Absolut lesenswert!