Schwere Kost

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kleine hexe Avatar

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Eine türkisch-deutsche Familie, kann ich mir vorstellen. Eine türkisch-armenische Familie kann ich mir auch vorstellen, aber nur bis Atatürk. Danach ist so viel Blut und Grauen und unsägliches Elend geflossen, dass diese Familien Kombination fast unmöglich geworden ist. Und doch, das Leben schreibt die verrücktesten Romane. Ich habe diesen Roman gelesen.
Kaan ist in eine sehr interessante Familie hineingeboren worden. Seine Großmutter ist Armenierin, wurde aber als kleines Mädchen, als sie verwaist in einem Schulinternat lebte, von einer türkischen Familie adoptiert, hat einen neuen Namen bekommen, Vahide, und hat ein gutes Leben gehabt. Sie heiratet einen Türken, hat drei Söhne und eine Tochter. Die Tochter reist nach Deutschland aus, heiratet einen Deutschen, hat einen Sohn, Kaan. Der Sohm verbringt die Sommerferien in der Türkei, an der Schwarzmeerküste, das restliche Jahr über ist er in Deutschland bei seinen Eltern.
Alles scheint in Ordnung zu sein, wären da nicht dunkle Schatten in seiner Familiengeschichte in Kleinasien. Mit zunehmendem Alter kann seine geliebte Großmutter, Anneanne, wie er sie nennt, nicht mehr verdrängen, welch Unrecht ihr und ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrem gesamten Volk angetan wurde. Sie ist Armenierin, mit einem Türken verheiratet, der später den Grund und Boden durch Spekulationen gekauft hat, der ihrer Familie gehört hat, um eine Haselnussplantage zu pflanzen und zu bewirtschaften. Die Armenierin erfuhr nie, dass ihr Mann, Hüseyin, sie praktisch um ihr Erbe betrogen hat. “Alles an Hüseyins Existenz war falsch gewesen, nur seine Liebe zu Vahide, die war echt. Und an Vahide, an der erwachsenen Ani, war seine Ruchlosigkeit gescheitert, zerfallen zu Staub wie ein Falter im gleißenden Licht.” (S. 230) Vahide verlangt von Kaan, er solle einen “Ausgleich schaffen in der Welt” (S.186), um zu lösen, was den Armeniern widerfahren ist. Er möge einen anderen Weg wählen, als den der Grausamkeit. Dieser Auftrag zehrt an Kaan: “Meine Anneanne, die hatte das alles im Gepäck, den Genozid,die Einsamkeit, die Traurigkeit. Diese unbedingte Verknüpfung von Selbstwert und Arbeit. Und den Rucksack muss ich jetzt tragen.” (S. 231-232)
Kaan erkennt, dass die Türken, die den Genozid verneinen, schuldig sind: Sein Großvater, genannt Dede, der Gärtner des Präsidentangartens in Istanbul, der Präsident selbst, alle sind sie mitschuldig. In seinen (Alb)Träumen werden diese drei Türken zu einem Mann, mit gemeinsamen Gesichtszügen. Und als er beschließt, den Präsidenten zu töten, tötet er “...den Präsidenten, den Gärtner, den Tepegöz, den Dede” (S. 261).Es ist eine apokalyptische und surreale Szene, in der das Attentat geschieht.
Die Folgen des Attentats sind bizarr, werden ironisch geschildert: Alp Kurtoglu, ein “geisteskranker Faschist” (S. 260), erstickt an einem Hühnerknochen, der Verteidigungsminister kriecht in einen Raketenbehälter und wird durch die Rakete pulverisiert. der Oppositionsführer der kemalistischen Demokraten erliegt einem Schlaganfall, “der ihn nicht umbringt, ihn jedoch auf die intellektuellen Fähigkeiten einer Schwarzmeerqualle reduziert. Seinen Wählern fällt dies zunächst kaum auf, aber er verliert in den folgenden Wochen doch überraschend schnell an Einfluss. (S. 263). Klingt vertraut diese Beschreibung? Trifft auch auf manche Politiker hierzulande zu.
Die Schlussszene des Buches, die Explosion des Frachters beladen mit Schweröl in der Bosporus-Meerenge könnte Kismet sein, könnte aber auch späte Rache der ermordeten Armenier sein, hundert Jahre zuvor. wer weiß?