Abwechslungsreich erzählte, intensive Menschenjagd mit überraschenden Wendungen

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alekto Avatar

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Katelyn Day arbeitet als Bibliothekarin in Boston. Ihr routinierter Alltag wird durchbrochen, als sie die einmalige Chance erhält am Going Zero-Betatest der Fusion-Initiative teilzunehmen, worüber sie nach dem durchlaufenen Bewerbungsprozess ein Schreiben des Department of Homeland Security informiert. Insgesamt hat dieser Betatest nur zehn Teilnehmer. Jeder dieser zehn Ausgewählten wird zum Verfolgten in einer maximal dreißig Tage andauernden Menschenjagd und muss sich in dieser Zeit vor den nahezu unbeschränkten technischen Möglichkeiten zur Überwachung, die dem Unternehmen Fusion unter Leitung seines genialen Chefs Cy Baxter zur Verfügung stehen, verstecken. Jeder Teilnehmer, dem das gelingen sollte, erhält dafür ein Preisgeld in Höhe von 3 Millionen Dollar. Und so beginnt die Jagd.

Mich erinnert die Handlung von Going Zero ein wenig an den Action-Film Klassiker Running Man mit Arnold Schwarzenegger bzw. an die Serie Most Dangerous Game mit Christoph Waltz, die allerdings von Anthony McCarten in seinem Roman in konsequenter Weise, was die technischen Möglichkeiten des heutigen Überwachungsstaats betrifft, modernisiert werden.
Dabei gibt es in Going Zero nicht nur einen Teilnehmer, der dreißig Tage lang untertauchen und unsichtbar werden muss, sondern gleich eine ganze Gruppe. Diese besteht zur Hälfte aus ganz gewöhnlichen Menschen. Die andere Hälfte wird von Profis womit größtenteils IT-Sicherheitsexperten gemeint sind. Letztere verfügen über besonderes Wissen bzw. einzigartige Möglichkeiten in Gestalt von eigens dafür entwickelter Software, um sich der Überwachung durch moderne Technik zu entziehen. Diese umfasst nicht nur die Nutzung von Handys, Suchmaschinen und sozialen Netzwerken, woran man zuerst denken mag. Stattdessen entwirft Anthony McCarten ein erschreckendes Szenario, indem die Paranoiden nicht die Verrückten, sondern die Realisten sind.

Fusion-Chef und Leiter des Betatests Cy Baxter wird von Anthony McCarten nicht als profitgieriger IT-Mogul eingeführt, der nur nach einem gewaltigen Regierungsauftrag strebt, sondern als sich selbst optimierender, seine Stimmungsschwankungen mit Yoga kontrollierender Visionär. Cy ist geprägt durch ein in der Vergangenheit begangenes schreckliches Verbrechen und sucht das dabei erlittene Trauma dadurch zu verarbeiten, dass er die Wiederholung einer solchen Tragödie um jeden Preis verhindern will, indem er die Welt sicherer machen wird. So ist der Autor bemüht seine Figuren nicht in gut und böse unterteilt anzulegen. Dennoch sind die Sympathien von Anfang an klar verteilt. Sie gehören der Gruppe der Normalen, die am Going Zero Betatest teilnehmen. Das gilt für die psychisch ein wenig instabile, manchmal ziemlich eigenartige Katelyn, die als Bibliothekarin unterschätzt wird, aber auch für Rose Yeo, die alleinerziehende Mutter von zwei Kindern ist, und für den ältesten Teilnehmer im Feld, den Veteranen Ray Johnson, der komplett analog lebt und dessen bescheidene Ansprüche wie realistische Einschätzung seiner Chancen mir gefallen haben. Diesen Underdogs habe ich in diesem ungleichen David-gegen-Goliath-Wettstreit von Beginn an die Daumen gedrückt.
Der Roman ist von Anthony McCarten so angelegt, dass durch seinen Aufbau die Spannung von Anfang an hochgetrieben wird. Da dauert es nur wenige Seiten, bis der Going Zero-Betatest und damit die Jagd auf dessen zehn Teilnehmer startet. Zudem wechselt der Autor von Kapitel zu Kapitel die Sichtweise zwischen Verfolger und Verfolgten. Dabei beweist er besonderes Geschick darin stets aus der Perspektive zu berichten, die die Ereignisse besonders überraschend werden lässt. Als Katelyn etwa die Fusion-Zentrale mit ihrem ersten Schachzug überlistet, wird das zwar zuvor aus ihrer Perspektive angedeutet, dann aber ausschließlich aus Sicht der Fusion-Zentrale erzählt, die von Katelyns Aktionen überrumpelt werden und ihre Niederlage gar nicht fassen können.

Im weiteren Verlauf dieses Romans sorgt der kontinuierliche Wechsel der Perspektiven zwischen Fusion-Zentrale und Betatest-Teilnehmer für eine abwechslungsreiche Erzählweise. So wird die Spannungskurve vom Autor hochgehalten. Dazu trägt auch bei, dass die meisten der zehn Teilnehmer gleich bei deren ersten oder spätestens dem zweiten Auftreten von der Fusion-Zentrale entdeckt und den auf ihren Kommandos hin agierenden Zugriffsteams gestellt werden.
Die Kehrseite der Medaille des hohen Spannungslevels ist, dass viele der an sich interessant angelegten Nebenfiguren wenig in Erinnerung bleiben, da Anthony McCarten diesen kaum Raum gibt. Dabei verschenkt der Autor viel Potenzial, was besonders schade bei den als Sympathieträger angelegten Figuren von Rose Yeo und Ray Johnson ist. Ich hätte aber auch gern mehr über Maria Chan, die als ehemalige Studentenaktivistin aus Hongkong im Asyl in den USA lebt, oder die früher so engagierte Polizistin Catherine Sawyers erfahren. Denn Anthony McCarten hat es geschafft, eine wirklich bunt gemischte Gruppe von zehn im Betatest Gejagten zusammenzustellen, aus der er nur leider zu wenig herausholt. Da hätte mir besser gefallen, wenn der Autor sich bis zum Start des Tests mehr Zeit gelassen hätte, indem er seine Nebenfiguren ausführlicher vorgestellt und mir die Möglichkeit gegeben hätte, diese besser kennenzulernen.

Dieser Wunsch wird dadurch verstärkt, dass die Figuren der Fusion-Zentrale und allen voran deren Chef Cy Baxter erstaunlich blass geblieben sind. Beim arbeitssüchtigen, von seinen Wutausbrüchen getriebenen Silicon-Valley-Milliardär Cy, der sein Unternehmen Worldshare, die Muttergesellschaft von Fusion, einst als begabter Programmierer aufgebaut hat, hätte ich eine schillernde, charismatische Figur erwartet. Doch nach seiner Vorstellung wirkte er auf mich konturlos und hinterließ kaum Eindruck. Auch die in diesen Kapiteln geführten Diskussionen, die um Datenschutz und den Überwachungsstaat kreisten, kratzten leider nur an der Oberfläche. Da hätte mir eine tiefergehende Auseinandersetzung mit diesen Themen besser gefallen. Und an Cys zwar überraschender Entwicklung im weiteren Verlauf des Romans hat mich gestört, dass diese für mich wenig nachvollziehbar gewesen ist, da die nicht zur vorigen Charakterisierung Cys passen wollte.
Die Figur von Cy leidet zudem darunter, dass ich den genialen IT-Mogul zuletzt etwa bei Jennifer Egan in Gestalt von Bix Bouton, dem Gründer eines sozialen Netzwerks, schon weit eindrucksvoller erlebt habe. Insgesamt hatte ich das Gefühl, dass sich Anthony McCarten mit der Charakterisierung von Cy ein wenig schwer getan hat. So hätte mir der Roman besser gefallen, wenn der Autor sich weniger auf Cy konzentriert hätte und stattdessen mehr von den zehn Teilnehmern am Betatest erzählt hätte.

Die zentralen Wendungen in diesem Roman konnten mich überraschen, auch wenn sie zuvor angedeutet wurden. Dabei sind diese derart durchdacht, dass sie höchstens in unbedeutenden Details nicht absolut konsistent sind, obwohl sie alles zuvor Erzählte auf den Kopf stellen. Zudem hat Anthony McCarten ein starkes Ende für seinen Roman gefunden, das bei mir wohl noch länger nachwirken wird und von einem passenden, zeitlich in der Zukunft angesiedelten Epilog abgerundet wird.