Misslungene Wendung

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Die Grundidee des Thrillers „Going Zero“ von Anthony McCarten ist bestechend einfach und doch sehr ausgefeilt. Schafft man es, 30 Tage unterzutauchen, ohne sich von den Sicherheitsbehörden erwischen zu lassen? Schafft man es, keine (digitalen) Spuren zu hinterlassen? Wie ausrechenbar ist das Verhalten eines Menschen? Diese Idee eines Katz-und-Maus-Spiels hat mich durchaus überzeugt (auch wenn sie mich schon auch ein wenig an den Film „Staatsfeind Nr. 1“ erinnert hat), auch weil die recht knappen, countdownartigen Kapitel dafür sorgen, dass Dynamik entsteht.

Was mir auch gut gefallen hat, die Hauptprotagonistin Kaitlyn (eine Bibliothekarin) ist gut vorbereitet, sie hat einen Plan, wie sie vorgehen will. Und durch den Umstand, dass 10 Personen für den Testlauf ausgewählt wurden, entsteht auch Abwechslung im Handlungsverlauf. So werden in eingeschobenen Kapitel auch die Schicksale der anderen Flüchtenden beschrieben (wenn auch nur recht knapp). Auf diese Weise werden verschiedene Ideen durchgespielt, wie man sich vor staatlichem Zugriff verstecken könnte.

Beiläufig geht es natürlich auch um die Frage der Vor- und Nachteile einer digitalen Gesellschaft und der möglichen totalen (digitalen) Überwachung. Wie weit darf ein Rechtsstaat gehen? Wie sehr darf in die Privatsphäre der Bürger eingegriffen werden, um einen möglichen Täter verfolgen zu können? Was mich beim Lesen jedoch häufiger beschäftigt hat, ohne dass ich eine befriedigende Antwort auf meine Frage finden konnte: Wie viel von dem, was im Buch als technisch möglich geschildert wird, ist fiktiv und wie viel ist real? Manches der Technik mutet doch sehr „sciencefictionhaft“ an. Hier hätte ich mir ein informativeres Nachwort gewünscht.

Zwei Drittel des Buchs sind sehr spannend, gut und kurzweilig. Was z.B. auch gut zum Ausdruck kommt, ist, dass Cy Baxter sehr ehrgeizig und besessen wirkt. Unter Belastung verliert er auch einmal die Beherrschung und geht zu weit. Er reagiert dann unvernünftig. Man hätte aus der Flucht von der unscheinbaren, unterschätzten Kaitlyn vor dem impulsiven Cy ein schönes Psychoduell machen können. Hier verschenkt der Roman in meinen Augen leider Potential.
Und noch etwas hat mich an dem Roman gestört. Meiner Meinung nach ist man als Leser zu weit weg vom Geschehen. So hätte ich mir gewünscht, dass ich an der Gefühls- und an der Gedankenebene der Flüchtenden viel näher dran bin. Dann wäre auch mehr Dramatik entstanden. Ich habe raffinierte Tricks der Testpersonen vermisst. Vieles ging mir zu einfach und zu glatt.

Und dann noch etwas: Im späteren Handlungsverlauf kommt es zu einer wichtigen Wendung (im Klappentext wird das lediglich durch die Aussage „doch Kaitlyn geht es um etwas anderes“ angedeutet). Und diese Wendung ist in meinen Augen eine Katastrophe, ja eine Katastrophe! Der Handlungsschwerpunkt verschiebt sich plötzlich hin zu etwas anderem und das, was so spannend angelegt war, gerät zu sehr aus dem Blick. Das ist unglaublich schade! Was hat der Autor sich nur dabei gedacht? Aus diesem Grund hat mir das letzte Drittel des Buchs auch überhaupt nicht mehr gut gefallen. So bleibt abschließend ein fader Beigeschmack. In meinen Augen hätte man aus der Grundidee viel mehr herausholen können und auch müssen.

Fazit: Der Roman lässt mich etwas verärgert zurück. Zwei Drittel des Romans sind sehr gut, wenn auch nicht herausragend. Dann kommt es zu einer wichtigen Wendung, die im Klappentext nur sehr nebulös angedeutet wird, und der Roman verliert für mich schlagartig an Qualität, weil sich der Schwerpunkt der Handlung hin zu etwas anderem verschiebt. Das ist nicht nur schade, das ist eine Katastrophe! Grundsätzlich hätte man aus der Story auch noch viel mehr Dramatik und Emotion herausholen können. Die Geschichte bleibt unter ihren Möglichkeiten. Ich empfehle das Buch nur solchen Lesern, die mit einer unerwarteten Wendung hin zum Schlechten gut umgehen können. 3 Sterne!