Auf der Flucht vor dem Hunger - Irland 1845

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Grace ist mit 14 Jahren noch sehr kindlich, als ihre Mutter sie in Männerkleider steckt, praktisch aus dem Haus schleift und zum Geldverdienen fortschickt. Graces jüngerer Bruder Colly ängstigte sie in der beginnenden Hungersnot in Irland 1845 bereits damit, dass Familien aus Hunger eins ihrer Kinder töten könnten. Er ist jedoch ganz und gar nicht damit einverstanden, dass seine Schwester und er, die das Essen für die Familie beschaffen, nun fortgejagt werden. Für die Einsicht, dass die Mutter ihre Älteste vor deren Stiefvater in Sicherheit bringen will, sollten Grace und Colly noch zu jung sein; Colly weiß jedoch genau, was sein leiblicher Vater von Grace will. Mit ungeschickt abgesäbelter Haartolle und in Männerkleidern begibt sich Grace auf die Wanderung von Black Mountain in Donegal nach Athlone und später bis nach Limerick, wo die Auswandererschiffe in die USA ablegen.

Die Kinder treffen Menschen, die für Essen rauben und töten und eine Krähe in den Kochtopf stecken, wenn es nichts anderes gibt. Von Colly lernt Grace, sich nicht wie ein Mädchen zu bewegen und Männer nicht anzustarren; denn auf der Straße leben schmächtige Menschen wie sie (beide) gefährlich. Ob Junge oder Mädchen, scheint egal zu sein, wenn dein Gegner dich für körperlich unterlegen hält. Das Leben auf der Straße macht rücksichtlos und erwartet, dass man bereit ist zu töten.

Graces beinahe dystopische Odyssee spielt vor dem Hintergrund der Hungersnot 1845-49 in Irland und wirkt wie ein Mix aus Coming-of-Age und Hosenrollen-Roman. Die Frage, wie Grace in diesen Verhältnissen ohne Erziehung durch eine Frau zur Frau heranwachsen kann, finde ich ausgesprochen spannend. Da das Mädchen die Ereignisse als schicksalhaft annimmt und nur Colly sie zur Kritik an den Verhältnissen anstachelt, wirkt die Handlung leider etwas spannungsarm.

Ohne Kennzeichnung der wörtlichen Rede ist „Grace“ ein eigenwilliger Roman, der es seinen Lesern nicht leicht macht, zwischen Graces Erlebnissen zu unterscheiden und dem, was sie – zutiefst abergläubisch – von Colly zu hören glaubt. Zeitweilig habe ich mich gefragt, ob Colly seine Schwester wirklich begleitet, ober ob seine Stimme ihr als imaginärer Begleiter auf ihrer Wanderung zur Seite stehen könnte.

Nicht gerade leicht zugänglich, beeindruckt der Roman durch seine ungewöhnliche Sprache, einen bodenständigen Slang, der Grace und Colly von feinen Städtern deutlich unterscheidet, ohne sie bloßzustellen.