Kraftvoll-dunkles Epos

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alasca Avatar

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Grace Coley ist gerade 14 Jahre alt, als ihre Mutter ihr die Haare absäbelt, sie in Männerkleider steckt und sie aus dem Haus wirft: „Jetzt bist du die Starke.“ Sie soll Geld verdienen und in einem Jahr wiederkommen. Der Grund ist die Große Hungersnot, ausgelöst durch die neu eingeschleppte Kartoffelfäule, die das Hauptnahrungsmittel der einfachen Leute vernichtete. Eine Million Menschen, nach manchen Quellen auch doppelt so viele, verhungerten. Ebenso viele wanderten aus. Tausende streiften auf der Suche nach Arbeit, Nahrung, Rettung durch das Land. Grace wird eine davon, begleitet von ihrem einfallsreichen jüngeren Bruder Colly, der zu dem Schluss gekommen ist: „Das is doch hier kein Leben.“

Der Roman geht an die Grenzen, in mehr als einer Hinsicht. Die Grenzen des Menschseins lotet er aus, indem er seine Heldin von einer Existenz in die nächste taumeln lässt. Jedes neue Kapitel bedeutet eine weitere (unfreiwillige) Transformation für Grace: Tochter, Viehtreiber, Knecht, Straßenarbeiter, Piratenkönigin, Sagengestalt, Zombie, Tote, stumme Heilige, Mutter. Auch die Grenze zwischen Leben und Tod verschwimmt; während ihrer Odyssee steht Grace in ständigem Dialog mit einer Reihe von meist hilfreichen Geistern, und die verhungernden Menschen, die ihr begegnen, sehen wie wandelnde Tote aus. Schließlich schwindet auch die Grenze zwischen Mensch und Tier. An der Stelle finden sich im Buch fünf schwarze Seiten, die mir völlig natürlich, ja notwendig vorkamen. Zwei Jahre ist Grace unterwegs; am Ende scheint für sie auch die Zeit aus den Fugen zu sein. Damit sie weiterleben kann, muss sie vergessen: Auch die Erinnerung vergeht.

Lynchs Sprache wird der Wucht des Themas gerecht. Graces Geschichte ist eine Tour de Force, die sich Zeit nimmt – ein Paradoxon, das die Leserin aushalten muss. Dabei gelingt dem Autor ein Sound, der der einfachen Herkunft seiner Heldin entspricht und gleichzeitig eine kunstvolle, dunkle Poesie entwickelt. An dieser Stelle muss die kongeniale Übersetzung von Christa Schuenke gewürdigt werden. Sie transferiert Lynchs Sprache so gut, dass der Blankvers, der im Original viele Textpassagen bestimmt, erhalten geblieben ist. Ganze Abschnitte haben einen so zwingenden Rhythmus, dass ich manchmal darüber vergaß, den Sinn zu erfassen, und alles noch einmal lesen musste. Überhaupt habe ich viele Sätze mehrmals gelesen – das hat mir Zeit gegeben, den oft krassen Inhalt zu verarbeiten. Atmosphärisch fand ich die gälischen Einschübe, die jedoch nicht immer übersetzt werden. Für viele der Anspielungen auf irische Mythen und Sagen fehlte mir der Hintergrund. Feen, Pukah, Leprechauns – googeln verleiht dem Verständnis mehr Tiefe.

Besonders fasziniert hat mich das reiche Innenleben von Lynchs Figuren, das bei aller Komplexität stets glaubwürdig bleibt. Grace grübelt nach über das Wesen der Zeit, der Seele und darüber, ob sie ewig leben möchte. Darüber, ob es möglich ist, seine durch die Geburt erhaltene Position im Leben zu verändern. Tiefe Denker auch ihr Bruder Colly und Bart, ein Weggefährte: „Siehst du denn nicht, was um dich rum geschieht? Dass die, die alles haben, die Betuchten, dass die sich einen Scheißdreck darum scheren, wie es den einfachen Leuten geht. […] Für unsereins kann es das Ende sein, doch die da, nein, die schert das nicht. […] Die Menschen leben in der Hoffnung. […] Sie hält euch fest in eurer Lage. Unten am Boden hält sie einen, […] hoffen heißt, von anderen abhängig sein. […] Ich denke, dass die Götter uns im Stich gelassen haben. Es ist endlich an der Zeit, sein eigener Gott zu sein.“

Obwohl der Text ein historisches Ereignis zum Thema hat, ist er nichts weniger als ein historischer Roman. Die Bezüge zu den Gequälten, Vertriebenen, Ausgebeuteten , Flüchtenden der Gegenwart sind allgegenwärtig. Man kann „Grace“, siehe Zitat oben, sogar als Kapitalismuskritik lesen. Nicht zuletzt unternimmt der Roman den Versuch, die irische Seele auszuloten – wenn es denn so etwas wie eine nationale Seele gibt. Was es erwiesenermaßen gibt, ist ein nationales Trauma – wer wüsste das besser als wir Deutsche. Das nationale Trauma der Iren ist die Große Hungersnot. Wieviel menschliches Potential in dieser Zeit untergegangen ist! Das hatte ich vor der Lektüre noch nicht verstanden.

Ein beeindruckender, ja erschütternder Roman mit tiefem Nachhall – wenn man sich darauf einlassen kann.