Ohne Gnade: Grace

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
mariederkrehm Avatar

Von

Autor Paul Lynch verarbeitet in seinem dritten Roman „Grace“ die große Hungersnot, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland herrschte. 2,5 Millionen Menschen starben oder sie wanderten aus, was auch nicht immer das Überleben bedeutet hat. 2017 ist das Buch erschienen, jetzt, vier Jahre später, auch bei uns auf deutsch.

Grace ist eine poetisch-entsetzliche Darstellung dieser Verhältnisse. Das Buch ist mit den Werken Charles Dickens’ verglichen worden, und da ist was dran, denn auch in „Grace“ prangert der Autor die Missstände der Zeit an, indem er sie am Versuch eines Kindes, zu überleben, in deprimierender Präzision schildert.

Grace ist 14, als sie sich unfreiwillig auf eine Reise ohne Ziel macht. Sie durchquert das Land, mal allein, mal in Gesellschaft, die nie von langer Dauer ist. Begleitung findet sie auch in den Schatten derer, die vor ihr gestorben sind, und an deren Tod sie sich mitschuldig fühlt. Dem Elend aber kann sie nie entkommen. Auf dem Land nicht, wo sie in Schuppen oder Ställen Unterschlupf sucht, in der Stadt schon gar nicht, wo noch viel mehr Unglückliche um die knappen Ressourcen kämpfen.

„Grace“ stellt die Frage nach dem Menschsein, wenn jeder nur noch auf die grundlegendsten Bedürfnisse reduziert ist, und lässt die Grenzen zwischen den Kreaturen verschwimmen. Zugleich zeichnet das Buch die Lage nach, wie man sie auch in den Geschichtsbüchern lesen kann. Der Zustand der Felder, die Nässe und der Schnee, die Suppenküchen, die sinnlosen Arbeitsangebote, mit denen man die Bevölkerung trotz der großen Not noch disziplinieren wollte, die erzwungene Entvölkerung des Landes, die vielen verlassenen Häuser.

Grace ist keine Heldin, darum bleibt es bis zum Schluss spannend, ob sie diese Odyssee überleben wird. Doch sie wird erwachsen auf ihrer Reise, und nachdem sie es geschafft hat, der Versuchung zu widerstehen, die ihr das Böse in Gestalt eines Paters offeriert, nimmt sie ihr Leben in die eigene Hand.

„Grace“ ist kein Buch, das man in einem Rutsch lesen kann. Aber jede Zeile ist es wert, gelesen zu werden.