Wortgewaltig zwischen den Zeilen erzählt.

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Inhalt
Irland, 1845. Grace ist vierzehn, als ihre Mutter Sarah, hochschwanger von ihrem Gönner, der beharrlich nun auch nach Grace verlangt, nicht mehr in der Lage ist, ihre Kinder zu ernähren. Eine Hungersnot, die mehrere Jahre andauern wird, sucht das Land heim. Sarah schert ihrer Tochter das Haar, steckt sie in Männerkleidung und schickt sie von zu Hause fort. Grace nimmt heimlich ihren jüngeren Bruder Colly mit, den sie aber schnell verliert und als Stimme in ihrem Kopf mit sich trägt. Das Mädchen stolpert durch ein gebeuteltes Land, findet Freund wie Feind, immer darum bemüht, niemandem ihr wahres Geschlecht zu offenbaren. Und im Angesicht all dieses Elends zu überleben.


Meinung
Ein sehr seitenstarker, nicht immer leicht zu verstehender, aber umso eindringlicher Roman, der, widmet sich der Leser ihm vollkommen, mitreißt und am Ende sogar zu Tränen rührt.
Lynch, von dem hoffentlich bald noch mehr in deutscher Sprache zu lesen sein wird, erzählt mit Grace’ Stimme, wie das Mädchen ihrer Zeit und Bildung wohl erzählen würde. Recht einfach, roh und sehr realistisch; wie ihre Sicht auf die Dinge und das Leben sind, ausgerichtet auf nicht mehr als einen Tag und das, was ihr Auge erblicken kann, angefüllt mit irischer Folklore und Mythologie. Später, wenn sie bereits als Junge unterwegs ist, auch recht derb und direkt. Zudem passt der Autor eben diese Sprache an Grace’ jeweiligen körperlichen und geistigen Zustand an – und zeigt damit sehr deutlich, was Hunger in und mit einem Menschen bewirken kann. Ebenfalls positiv zu nennen ist Lynchs Art, die Geschehnisse nicht plump zu benennen, sondern sie gewandt zu zeigen und vieles dadurch auch zwischen den Zeilen zu erzählen. Gepaart mit seiner oft sehr lyrisch wirkenden Sprachgewalt, macht es das Lesen nicht immer angenehm (weil das Thema dies nicht ist), aber vollkommen. Vielen Dank für die absolut gelungene Übersetzung!
Grace ist vierzehn und versteht erst Jahre später, was ihre Mutter bewegt, sie fortzuschicken. In alten Kleidungsstücken des Vaters soll sie zu einem fernen Verwandten gehen, kommt dort aber nie an. Sie und ihr Bruder, der schon recht erwachsen tut, haben andere Pläne – die sich schnell zerschlagen, als es Colly fortträgt. Grace, die mit der neuen Situation nicht umzugehen weiß, behält ihren Bruder lange Zeit als Stimme in ihrem Kopf bei sich. Sie gerät an eine Gruppe junger Männer, die eine Viehherde durch das von Hunger geschüttelte Land treiben sollen. Hier zieht sich das Geschehen leider ein wenig, was ausgehalten werden will. Bitte durchhalten, es lohnt sich. Grace trägt es weiter, mal zieht sie allein durchs Land, manchmal in Begleitung. Zunächst gibt es sie noch, jene, die Mitleid haben und ihr etwas geben, aber die werden immer weniger. Sie ist dazu verdammt, in dieser rauen und recht männlich geprägten Welt zur Frau zu werden; auch wenn der Hunger ihren Körper kindlich bleiben lässt, blutet sie zum ungünstigsten Zeitpunkt zum ersten Mal. Der bis dato relativ sichere Unterschlupf ist es fortan nicht mehr, sie muss weiterziehen, immer weiter. Das ist doch kein Leben, denkt sie irgendwann, kann aber nichts dagegen tun.
Wörtliche Rede wird im Roman nicht als solche gekennzeichnet, dennoch ist sie immer zu erkennen und zu verstehen, wenn es auch eine besondere Aufmerksamkeit benötigt.
Grace’ wachsende Verzweiflung – die Hungersnot dauert mehrere Jahre, die sie lose durchs Land zieht, dem es immer schlechter geht und das harte Winter ertragen muss – ist mit jeder zunehmenden Zeile spürbar. Ihr Wechsel im Charakter trägt dazu bei – was Hunger bedeutet, was fehlende Nährstoffe und ständiger Stress mit einem Körper (und Geist!) machen können, hat Lynch perfekt verstanden zu beschreiben.
Es gipfelt im letzten Drittel in vier schwarzen Seiten, Grace’ absoluter Tiefpunkt. Nicht ihr Tod, denn sie wird gerettet, wenn auch nicht so, wie sie es sich selbst gewünscht hätte. Jede neue Rettung, die keine ist. Aber nicht, um die Aufmerksamkeit des Lesers zu gewinnen, sondern als logische und glaubhafte Abfolge in einer Geschichte, die einfach nichts Gutes bereithalten kann. Und am Ende geht selbst diese Zeit vorbei, wenn auch sicher nicht spurlos. Lych zeigt, was die Iren heute noch tief prägt, diese Zeit des Elends, des Hungers, der Gewalt und der tiefen, tiefen Spaltung. Er hat all jenen Menschen damals in Form der jungen Grace eine Stimme gegeben, die treffend schildert und lange nachhallt. Grace ist in dieser Zeit vieles, aber nie sie selbst, dazu haben die äußeren Umstände sie viel zu stark gebeutelt und geprägt.
„Grace“ ist ein äußerst erschütternder, aber umso emotionaler Roman, der perfekt erzählt wird und dadurch lange im Gedächtnis verbleibt.