Hervorragender Schreibstil, inhaltlich leider etwas kurz gehalten

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viv29 Avatar

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Über die zweite Ehefrau Konrad Adenauers wußte ich bislang überhaupt nichts und auch über Adenauers Hintergründe beschämend wenig, also war ich auf dieses Buch sehr neugierig. Der ausgezeichnete Sprachstil hat mich dann gleich gefangengenommen und so ging ich die Lektüre mit hohen Erwartungen an, die auch fast vollständig erfüllt wurden.
Die Gestaltung des Buches ist hinsichtlich Einband und Vor- sowie Nachsatz ansprechend. Auf dem Titel findet sich ein Portrait Gussie Adenauers, welches wir dann im Vor- und Nachsatz als größeres Gemälde sehen, wodurch die Leser gleich einen visuellen Eindruck erhalten. Im Buch fand ich das etwas raue Papier weniger angenehm, aber das ist letztlich zweitrangig.
Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt. 1948 liegt die sterbende Gussie in ihrem Krankenhausbett und blickt auf ihr Leben zurück, welches dann in der zweiten Zeitebene ab 1915 erzählt wird. Die 1948-Szenen sind ausgesprochen schmerzhaft. Dieses stille Sterben, die Resignation, die über allem hängt, das melancholische Ergeben ins Schicksal und auch die Trauer der Umgebung sind mit wenigen wohlgesetzten Worten einfach wundervoll erzählt. Ich sah mich geradezu mit in diesem Krankenzimmer und spürte Trauer über dieses zu früh endende Leben nach Jahren des Leids in der Nazidiktatur. Die rührenden Briefauszüge verstärken dieses schwermütige Gefühl und sind überhaupt hervorragend eingesetzt.
Vor jedem Kapitel findet sich ein solcher Auszug aus Briefen an oder von Gussie. Diese passen immer ausgezeichnet zum Kapitel und mir gefielen sie im Buch mit am meisten, weil man so einen direkten Zugang zu den Menschen bekam. Ich war enttäuscht, im Nachwort zu lesen, daß es sich gar nicht um echte Briefauszüge handelt. Sie sind laut Autor zwar dem Ton der wirklichen Briefe nachempfunden, aber es wäre wesentlich authentischer gewesen, dann auch die wirklichen Auszüge zu nehmen. Leider wird auch nicht erklärt, warum dies nicht getan wurde.
Die Kapitel über Gussies Leben sind vignettenhaft. Wir erhalten kurze Einblicke, zwischen denen oft recht viele Jahre liegen. Das hat mir von der Konzeption her weniger gefallen. Die Ehejahre vor 1933 werden ausgesprochen kurz abgehandelt. Das mag natürlich daran liegen, daß es vielleicht nicht so viel zu berichten gab, aber dieser Vignettenstil verhinderte es für mich, mich den Charakteren zu nähern, auch hätte ich gerne ein umfassenderes Bild erhalten. Abgesehen von Gussie blieben mir dann auch alle anderen Charaktere recht fremd, was ich bedauerlich fand. Ab 1933 werden die Kapitel länger und dichter, aber auch hier wurde vieles zu kurz abgehandelt, über das ich gerne mehr gelesen hätte. Auch dem Verständnis mancher Situationen wären etwas mehr Hintergründe hilfreich gewesen. Dagegen gab es einige langatmige Passagen, insbesondere das Privatleben der Krankenschwester Gussies fand ich in diesem Rahmen höchst entbehrlich – gerade weil ich so viel lieber mehr über Gussie und Konrad Adenauer gelesen hätte. Es gibt viele Bücher, die sich in sich selbst verlieren und denen 50 Seiten weniger guttun würden – „Gussie“ hätte mir mit etwa 50 Seiten mehr noch besser gefallen.
Der Schreibstil ist eine wahre Freude. Christoph Wortberg kann mit Worten umgehen. Er schreibt reduziert und gleichzeitig wortgewaltig. Alle Szenen sind sehr anschaulich, schaffen Atmosphäre, lassen die jeweiligen Orte vor unseren Augen auferstehen. Gerade das Atmosphärische ist ausgezeichnet gelungen. Die Bedrohung durch die Nazis, ihre perfiden, widerlichen Methoden, die immer lastende Angst werden so hervorragend dargestellt, daß das Lesen oft beklemmend wird. Man merkt auf jeder Seite, daß hier ein Autor mit Können am Werk ist.
Ich habe aus diesem Buch viel gelernt und mich an der gelungenen Sprache erfreut. Eine bereichernde Lektüre.