Weltenflucht

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miss_cooper Avatar

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Ein Eisernes Band soll die beiden Großmächte Russland und China miteinander verbinden. Und so lässt die Transsibirien-Kompanie über zwei Jahrzehnte eine Bahnstrecke zwischen Moskau und Peking entstehen. Viele hundert Arbeiter verlieren bei diesem Projekt ihr Leben. Schuld daran trägt ein Gebiet das allgemein als das Ödland bekannt ist. Doch es war nicht immer gefährlich durch diesen kargen Landstrich zu reisen. Einst lebten dort Menschen, noch bevor die Veränderungen begannen. Bevor die Haut der Tiere durchsichtig wurde, bevor die Bäume sich in Luft auflösten, Vögel vom Himmel fielen und die Pflanzen fremdartige Blätter trugen. Wer sich jetzt allein ins Großsibirische Ödland wagt, so heißt es, kehrt nie wieder zurück. Es lässt den Verstand entgleiten und entfesselt die schlimmsten Ängste. Es sind also nur die mutigsten, oder die verzweifeltsten, die es wagen das Ödland in dem Transsibirien-Express zu durchqueren. Denn auch innerhalb des Zuges ist es schwer einer Landschaft zu widerstehen, die den Geist so sehr verwirrt, dass Männer in dem verzweifelten Versuch nach draußen zu gelangen sich gegen die Fenster werfen und die Finger an den Türen blutig kratzen.

„Seien Sie auf der Hut, keine Landschaft ist unschuldig. Wenn ihre Gedanken zu wandern beginnen, wenden Sie sich vom Fenster ab.“

Mit einem Koffer voller Hoffnungen im Gepäck besteigt Maria Petrowna, eine junge Frau mit geborgtem Namen den Zug. Sie ist beides, mutig und verzweifelt. Doch allem voran ist sie auf der Suche nach einer Wahrheit, von der sie glaubt, das nur der Zug sie ihr geben kann. Sie sucht nach Antworten auf all die erdrückenden Fragen die seit dem Tot ihres Vaters ihre Seele verdunkeln.

Ebenfalls auf der Suche ist der englische Wissenschaftler Henry Grey. Nach seinem katastrophalen Fehlschlag durch den seine Person der Lächerlichkeit preisgegeben wurde, ist er getrieben von dem Wunsch seine Reputation wieder herzustellen. Koste es was es wolle. Grey hat sich in den Kopf gesetzt seine Theorie der Mimikry zu beweisen, die besagt, das alle Wesen nach einer vollkommeneren Form streben und das dadurch die Veränderungen im Ödland entstanden. Um diesen Beweis erbringen zu können, müsste er allerdings den Zug verlassen doch das ist strengstens Untersagt. Und den wachsamen Augen des Zugpersonals entgeht nicht das geringste.

Zhang Weiwei gehört zu diesem Zugpersonal, auch wenn sie keinen offiziellen Posten bekleidet. Sie ist untrennbar mit dem Zug verbunden seit sie vor Sechszehn Jahren im Zug geboren und gleich darauf zur Waise wurde. Die Crew hat sich damals ihrer angenommen. Weiwei wurde zum Zugkind. Auf ihren regelmäßigen Streifzügen durch die Wagons hat sie bereits jeden Winkel erkundet. Als sie wieder einmal durch die Gänge und Abteile wandert und sich in eines ihrer Verstecke zurückzieht ist sie dort allerdings nicht allein. Ein blinder Passagier hat sich in den Zug geschmuggelt. Ein Mädchen, etwa in ihrem Alter. Weiwei sieht sich plötzlich vor einer Entscheidung stehen. Soll sie die blinde Passagierin melden wie es Vorschrift wäre, oder soll sie sie versteckt halten. Die Kompanie hat diesbezüglich klare Regeln und sie fordert absolute Loyalität. Wer sich nicht daran hält wird mit gnadenloser härte bestraft.

Auch wenn die Leben der drei offenkundig keine Gemeinsamkeiten aufweisen, fließen ihre Geschichten in der gepanzerteren Festung ineinander. Sie beginnen Teil von etwas Singularem zu werden.

„Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ ist Sarah Brooks Debütroman auf den ich mich enorm gefreut habe und der mich zunächst etwas ernüchterte. Vielleicht habe ich meine Erwartungen auch einfach zu hoch geschraubt. Brooks Roman ist in sieben Teile gegliedert, die wiederum jeweils in mehrere Kapitel aufgefächert wurden. In jedem der kurzen Kapitel hat einer der drei Protagonisten seinen Auftritt. Die Sequenzen waren mir allerdings zu knapp, wodurch ich nicht richtig warm mit den Figuren wurde und eine Distanziertheit entstand. Doch mit jedem Kilometer den der Transsibirien-Express in das Ödland vordringt, kann ich mich in die Unendlichkeit des irrealen stürzen und meine Gedanken auf Wanderschaft schicken. Durch ihren Stil lässt sie phantastische Bilder in meinem Kopf erblühen und es gelingt ihr einen stetig ansteigenden Spannungsbogen zu erzeugen, der erst in den letzten Kapiteln zu seinem Höhepunkt findet. In dieser schaurig abstrusen Kulisse stehen die Protagonisten dennoch immer im Vordergrund und sie entwickeln sich stetig weiter. Allerdings nicht immer in positiver Weise. Das Randpersonal kommt dabei nicht zu kurz. Nahezu jede ihrer Figuren birgt ein kleines Geheimnis, welches erst nach und nach enthüllt wird. Auch wenn die Distanz zu den Protagonisten bis zum Schluss blieb ist Sarah Brooks „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ ein fesselnder und vielschichtiger Roman, der zeigt das alles möglich ist.