Harlem vor 60 Jahren

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buecherfan.wit Avatar

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Im Mittelpunkt von Colson Whiteheads neuem Roman steht Ray Carney. Er verkauft in einem Laden in der 125th Street gebrauchte Möbel und Geräte. Sein Leben lang hat er versucht, ein halbwegs gesetzestreuer Bürger zu sein, schon um sich von seinem Vater, dem Ganoven Big Mike abzusetzen, der ihn als Kleinkind gern mal allein in einer Bar zurückließ und sich kaum um ihn kümmerte. Sein bester Freund in seiner Kindheit war sein Cousin Freddie, der es auch nicht viel besser getroffen hatte. Die beiden waren wie Brüder, aber schon damals hat Freddie ihn immer wieder in Schwierigkeiten gebracht. Inzwischen geht es natürlich nicht mehr um Bestrafung durch den Vater, sondern um Konflikte mit örtlichen Gangs und der Polizei. Ray soll für ihn Raubgut aus dem Hotel Theresa lagern und an ihm bekannte Hehler weiterleiten, später Dokumente und wertvollen Schmuck aus dem Elternhaus seines drogenabhängigen Freundes Linus, Sohn von sehr reichen und mächtigen Eltern, in seinem Tresor verstecken. Ray braucht illegale Nebeneinnahmen, weil er allein mit Verkäufen aus seinem Geschäft den Lebensunterhalt für die Familie nicht aufbringen kann. Seine Frau Elizabeth stammt aus der gehobenen schwarzen Mittelschicht, und das Paar erwartet sein zweites Kind in einer viel zu kleinen Wohnung. Das Geld reicht auch deshalb nicht, weil Ray einen beträchtlichen Teil seines Einkommens durch regelmäßige Schmiergeldzahlungen an die Polizei und Schutzgelderpressung durch Gangster aus dem Viertel verliert. Die Situation wird für Ray immer kritischer und gefährlicher. Wird er überleben?
Die drei Abschnitte des Romans umfassen die Jahre 1959, 1961 und 1964 und damit die Präsidentschaft John F. Kennedys. Da gab es zeitweise die Hoffnung auf Besserung der Verhältnisse, vor allem der wirtschaftlichen und rechtlichen Situation von Farbigen. Mit den Harlem Riots von 1964 musste diese Hoffnung erst einmal begraben werden. Anlass der Unruhen war die Erschießung des 15jährigen farbigen Jungen James Powell durch den weißen Polizisten Thomas Gilligan am 16.7.1964. Auch 60 Jahre später gibt es Rassismus und brutale Übergriffe und Morde durch Polizisten, wie der Fall George Floyd im vorigen Jahr noch gezeigt hat, und damals wie heute kommen sie meist straflos davon.
Whiteheads Roman liefert das spannende politische und gesellschaftliche Porträt einer Epoche in der afroamerikanischen Enklave Harlem und ist zugleich eine interessante Familienchronik. Mir hat der Roman sehr gut gefallen, obwohl die Personenvielfalt die Lesbarkeit ein wenig beeinträchtigt.