Berührend

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
taina Avatar

Von

Vorweg: Dass ein Buch, in dem auf fast 300 Seiten einfühlsam die Entwicklung eines kleinen Feldhasen und die Beziehung einer Frau zu ihm beschrieben wird, nicht langweilt, das ist ein Verdienst der Autorin. Die Erzählung ist ruhig, getragen von einem tiefen Respekt und echtem Interesse für das Leben des wilden Tieres und seine Bedürfnisse.
Chloe Dalton, Expertin für Außenpolitik, Beraterin, im britischen Parlament tätig und stets auf Reisen, zieht sich wegen der Corona-Epidemie auf das Land zurück. An einem kalten Tag im Februar findet sie in der Nähe ihres Hauses einen Feldhasen, den sie zunächst nicht anrührt, dann aber, als er nach Stunden noch immer unbeweglich an der gleichen Stelle hockt, nimmt sie ihn mit. Er hat nach Aussage aller, die etwas von der Aufzucht von Tieren verstehen, keine Chance. Dennoch schafft sie es, ihn am Leben zu erhalten. Sie stellt fest, dass wenig und viel Widersprüchliches über das Leben dieses Tieres bekannt ist, da er vor uns meist verborgen bleibt und die Aufzucht in Gefangenschaft nie Ziel war, mehr seine Verwertbarkeit als Jagdbeute. Was nun folgt, sind minutiöse Beschreibungen des kleinen Hasen, seiner Fellzeichnungen und deren Veränderungen sowie seiner Verhaltensweisen. Dazu kommen Informationen, die sich Chloe Dalton in Bibliotheken beschafft, antike Schilderungen, Beschreibungen der Jagd, die in England noch immer verbreitet ist, Erwähnungen in der Literatur, Gedichte. Alles, was sie liest und sieht, führt sie zu einer neuen Betrachtung des Verhältnisses von Mensch und Natur. Sie nennt das Tier nur Hase, will es nicht durch einen Namen vermenschlichen, sondern ihm die Chance geben, später ein Leben in Freiheit zu führen. Ihr Leben ändert sich, da sie durch die unerwartete Begegnung einen neuen Blick auf die Natur erhält. Sie passt sich dem Rhythmus und den Bedürfnissen des Tieres an und sieht ihre Umwelt mit anderen Augen. Ihr durch Corona auf Videocalls und online-Arbeiten beschränktes Arbeiten ermöglicht ihr eine Erfahrung, die sie in ihrem vorherigen Leben niemals hätte machen können.
Nach und nach erweitert sich der Lebensraum des Hasen, er entdeckt ihren Garten und schließlich die Felder davor. Es rührt die Autorin, dass Hase stets zurückkehrt, ihr Haus als sicheren Ort betrachtet, ihre Nähe sucht. Das respektvolle Verhalten gegenüber dem Tier ist in allen Schilderungen der Autorin sichtbar.
Das Buch ist eine Entdeckung für Leserinnen, die sich Gedanken über das Verhältnis von Mensch und Natur machen und bereit sind, echtes Interesse für eine Tierart aufzubringen, die uns meist verborgen bleibt. Die Autorin schreibt durchgängig in der Ich-Form, sie verfügt über einen angenehm unaufgeregten, präzisen Schreibstil ohne Schnörkel. Ein schönes, sehr ruhig gestaltetes Cover, auf dem Hase in all seiner Würde abgebildet ist, ein Lesebändchen, eine insgesamt schöne Aufmachung mit einigen Bleistiftzeichnungen vervollständigen das Leseerlebnis.