Anders als erwartet

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"[…] die Aufgabe eines öffentlichen Schreibers beläuft sich nicht auf Schönschrift. Natürlich sind formale Ästhetik und Präzision gefragt, wenn es um Glückwünsche, Urkunden oder Lebensläufe geht. Doch handgeschriebene Schriftstücke besitzen eine individuelle Note, eine seelische Komponente, die über reine Schönheit hinausgeht."

Die Leseprobe zu diesem internationalen Bestseller hatte mich umgehauen. Als Japan-Interessierte stand für mich sofort fest: Hier handelt es sich um ein Must-Read. ... und im Hinblick auf alle inhaltlichen Elemente zur japanischen Kultur (Traditionen und Rituale, gesellschaftliche Verhaltensweisen und Ansichten, etc.) bin ich noch immer dieser Meinung. Eine große Besonderheit waren die inkludierten Briefe, die stets in Originalzeichen sowie auf Deutsch abgedruckt waren, wobei manche Schriftarten leider etwas schwierig zu entziffern waren, was meinen Lesefluss durch das in vier Abschnitte unterteilte Buch etwas verlangsamte.

Wir erleben gemeinsam mit der sympathischen Hauptfigur Hatoko, Spitzname Poppo, die vier Jahreszeiten und begleiten die junge Frau zudem bei ihrer persönlichen Weiterentwicklung. Der von ihrer Großmutter übernommene Schreibwarenladen, in welchem sie sämtliche Schreibaufträge (von Trennungsbriefen über klassische Grußkarten und saisonale Grüße bis hin zu Briefen 'aus dem Himmel') voller Hingabe und Pflichtgefühl erledigt, nimmt den Großteil ihres Lebens ein. Zwar gibt es eine herzliche Nachbarin (Barbara), die Poppos beste Freundin ist, aber abgesehen davon ... An ihre Mutter hat sie keine Erinnerungen, das Verhältnis zu ihrer Oma, die sie stets ihre "Vorgängerin" nennt, war eher von Respekt und Distanz geprägt als von liebevollen Momenten.

Schreibstil: Ganz eigen! Voller poetischer Schönheit, sanft und ruhig. Melancholisch, teilweise fast schon schwermütig und zugleich lebensbejahend, voller bildreicher Details und strotzend vor Japan-Flair. Allerdings konnte ich bis zuletzt keine Bindung zu Hatoko aufbauen. Ich mochte sie, doch sie blieb mir relativ fremd. Insgesamt gab es ein, zwei Momente der Rührung - ansonsten spürte ich kaum emotionale Tiefe.

Handlung: Sehr ruhig und gemächlich. Der Fokus liegt ganz klar auf dem Thema Schreiben - hier eröffnet sich ein wahrer Wissensschatz bzw. strenger Regelkatalog, denn es gibt so viel zu bedenken: welches Papier, welche Tinte, welches Schreibutensil, welche Schriftart, sollen Tränen das Papier benetzen, welche Extras unterstreichen das Geschriebene symbolisch ... und natürlich kommt es immer auf die Hintergrundgeschichte jener Person an, die Hatoko den Schreibauftrag erteilt, welche Formulierungen letztlich verwendet (oder zwingend vermieden) werden sollten.

Mein Lieblingszitat:

"»Sie denken wahrscheinlich, dass es kindisch sei, in meinem Alter eine Freundschaft zu kündigen. Aber das zeichnet das Erwachsenenleben geradezu aus und macht es so angenehm: Man muss sich nicht mit Menschen abgeben, die man nicht leiden kann. […] Wir können unsere Freunde selbst wählen. Wenn man sich zwingt, mit jemandem auszukommen, den man nicht mag, führt das zwangsläufig zu Spannungen und laugt die Beteiligten nur aus. Genau das will ich vermeiden - eben weil ich erwachsen bin.«"

Fazit: Wunderschön und kunstvoll geschrieben, doch für mich persönlich zu nüchtern - die Geschichte und ihre Figuren erreichten mein Herz nicht. Ich nahm den Roman als eine Hommage an das geschriebene Wort und an die japanische Kultur wahr - daher kann ich ruhigen Gewissens eine solide Empfehlung an alle Japan-Begeisterten aussprechen. Wer jedoch eine mitreißende Handlung erwartet, sollte lieber zu anderen Werken greifen - und das meine ich überhaupt nicht böse, sondern lediglich als Hinweis, um unnötiger Enttäuschung vorzubeugen.