Gedanken und Gefühle eines jungen Künstlers

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frollein_wunderbar Avatar

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Wenn ich ein besonders interessantes Buch lese, vor allem bei Klassikern, recherchiere ich oft Wissenswertes zum Autor.
Bei klassischer Musik habe ich das nie in Betracht gezogen. Wann wurde das Werk geschrieben? Was war der Komponist für ein Mensch und was hat er sich dabei gedacht, was wollte er erzählen? Dass unterschiedliche Künstler die Stücke unterschiedlich interpretieren... Wenn man darüber nachdenkt eigentlich klar.
Wer ist die Person hinter der Musik, auf der Bühne? Was Igor Levit angeht, weiß ich jetzt so viel, wie er bereit war, von sich preiszugeben. Dieses Buchprojekt war eigentlich als etwas Anderes geplant - so wie wir uns alle einiges für die letzten 14 Monate anders vorgestellt hatten. Herausgekommen ist nun eine Art Biografie, Reportage, Interview und Coming-of-age-Story. Wie ist Igor aufgewachsen, was begeistert ihn an seinem Beruf, welche Zweifel hat er, was macht ihn glücklich?
Was hat sein Leben im letzten Jahr ausgemacht? Florian Zinnecker, Journalist für DIE ZEIT, hat die Informationen zusammengetragen und spannend - aber manchmal sehr sprunghaft - beschrieben. Mal sind wir im Heute bei einem Treffen dabei, dann nimmt er uns mit in die Vergangenheit, um den Werdegang des Ausnahmetalents darzulegen, dazwischen Anekdoten.. Oft habe ich den Überblick verloren, was nun in welcher Reihenfolge geschah, einiges wiederholte sich. Trotzdem sehr kurzweilig und aufschlussreich, für jemanden wie mich, der klassische Musik gerne hört, aber sonst auch nichts groß dazu sagen kann. Wird einem alles erklärt. Ich hatte nicht das Gefühl, da geht es um Themen, von denen ich nichts verstehe, man wird von beiden Erzählern mitgenommen.
Igor ist nicht überheblich aufgrund seines Könnens, er ist überaus menschlich, authentisch, lässt viel aus dem Zeitgeschehen an sich heran, engagiert sich, bezieht politisch Stellung. Ich habe ihn vor kurzen bei Jan Böhmermann zusammen mit Danger Dan gesehen, danach im "Kölner Treff", beide Interviews waren so sympathisch und, ein Künstler, der normal geblieben ist, der zum Ende des Buches erklärt, die Hauskonzerte während der Coronakrise haben etwas für ihn geändert, haben Druck herausgenommen.
Die Geschichte der "Hauskonzerte" nun ist sehr schön. Da Igor Levit Publikum braucht, egal ob 500 Personen oder nur 5, spielt er während des Lockdowns im Frühjahr 2020 von zu Hause aus und twittert seine Konzerte. Er spielt, wonach ihm ist, ohne Tontechniker, ohne Programm, ohne den "Klassikbetrieb". Das stellt eine ganz andere Verbindung zwischen Publikum und Künstler her, denn das, was man jetzt sieht und hört ist Igor, die einzigen Kritiker sind sein Publikum.

Was mich zu Schluss nachdenklich macht ist das Thema "Kritik" im allgemeinen, welches im Buch an vielen Stellen in unterschiedlicher Form zur Sprache kommt. Kritik zeigt sich immer häufiger destruktiv, herabwürdigend. Drängt Künstler, drängt MENSCHEN in die Defensive, in den Verteidigungsmodus. Dieses ewige Gegeneinander ist ein unterschwelliges, großes Thema des Buches und ein Blick auf die derzeitige politische und gesellschaftliche Situation.

Ich mag Klaviermusik sehr. Ich kann kein Instrument spielen, aber ich kann lesen. Ich konnte lesen, wie es ist jemand zu sein, der das kann und was ihn antreibt.