Kurzweilig und interessant

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monerl Avatar

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Meine Meinung

„Ich habe in dieser Zeit – vielleicht zum ersten Mal überhaupt – gespürt, dass ich kein Fake bin. Dass ich nicht nur so tue, als ob. Ich habe mir zum ersten Mal selbst geglaubt, dass ich Pianist bin.“ (Buch, S. 219)

Wer ist dieser Mann, dieser Künstler, der eine Pandemie und den Ausfall aller Konzertaufführungen gebraucht hat, um über einen simplen Stream auf Twitter durch „Hauskonzerte“ zu erkennen wer er ist und was er wirklich kann?

Diese Antwort versucht uns Florian Zinnecker mit seinem Buch zu geben. Er nimmt uns mit zu Gesprächen, die er mit Igor Levit führte und wir begleiten ihn literarisch zu Konzerten, die Igor gab, als dieses Buchprojekt startete bis hin zum Pandemieausbruch und der Stille, die sich plötzlich von einem Tag auf den anderen über den gesamten Kulturbereich legte.

Dies ist keine typische Biografie, wie auch der Lebenslauf der Hauptperson nicht wirklich typisch ist. Denn Igor Levit ist ein Genie am Klavier, der die Musikstücke, bevor er in die Tasten haut, zigmal vorher in seinem Kopf spielt. Mit drei Jahren hat er von sich aus angefangen die gehörte Musik am Klavier nachzuspielen und seitdem nicht mehr aufgehört.

Pianist zu sein ist eine einsame Berufung. Das Lernern, Erlernen, Üben, Varieren usw. passiert einsam und allein am Flügel. Deshalb ist das Publikum so enorm wichtig. Denn Igor spielt für die Zuhörer*innen. Sie will er begeistern, mitnehmen auf diese musikalische Reise.

„Ich lerne ein neues Stück zuerst immer ohne Klavier aus den Noten. Ich trage es mit mir herum im Kopf, manchmal dauert das ewig, Monate. Man muss es doch kennen, bevor man es spielt. Wenn ich mich dann hinsetze und es zum ersten Mal spiele, ist es nicht das erste Mal.“ (Buch, S. 29)

Doch bis Igor Levit der heute überall bekannte und gefeierte Pianist wurde, hat es lange Zeit gedauert. Mit Igors Mutter Elena unterhält sich Zinnecker über Igors Kindheit, denn Igor selbst kann nicht sich nicht richtig an diese Zeit erinnern. Er lebt im hier und jetzt.

Es hat mir großen Spaß gemacht zu lesen, wie aus einem unsicheren Jungen, der noch nicht genug Selbstwertgefühl hatte zu sich und zu seinem Können zu stehen und der oft abgewiesen wurde, der Igor von heute geworden ist, der mittlerweile genau weiß was er meint und will. Er hat zu seinem „ICH“ gefunden.

Dabei bekommen Leser*innen Einblicke in die „Bubble“ der klassischen Musik, die oftmals auch grausam ist. Eifersucht und Neid, Intriegen und Vetternwirtschaft herrschen auch hier vor. Es war naiv von mir zu glauben, dass das in diesem Milieu anders wäre.

Igor Levit ist nicht nur Pianist, ein Genie am Klavier. Er ist gleichzeitig ein Mensch mit unterschiedlichen Interessen, unter anderem auch an der Gesellschaft und der gegewärtigen Politik. Er entdeckte Twitter für sich, Gott sei Dank, denn da bin ich zum ersten Mal auf ihn aufmerksam geworden, als er das erste titelgebende Hauskonzert gespielt hat. Für mich war es ein ganz besonderes Lockdown-Erlebnis aus dem letzten Jahr!

Auf Twitter äußert(e) sich Igor Levit auch politisch, was ihn über kurz oder lang in verschiedene Timelines spülte, auch die der Rechten. Dies veränderte wieder einiges in seinem Leben, denn von nun an erhielt er Morddrohungen. Dies war für mich sehr schwer zu lesen, denn es zeigte mal wieder, WIE sehr mittlerweile unsere Gesellschaft verroht ist.

Florian Zinnecker hat uns mit seinem Buch den Musiker, Künstler und Mensch Igor Levit näher gebracht. Die Biografie war sehr interessant und kurzweilig zu lesen. Keine trocken aneinandergereihten Zahlen und Daten und kein permanenter musischer Fachjargon, den nur Klavierbegeisterte und -kenner verstehen. Es hat mir sehr große Freude gemacht in den Kopf eines Musikgenies zu blicken und zu merken, wie anders, wie unterschiedlich man Musik verstehen und wahrnehmen kann. Manchmal war mir die Biografie thematisch und zeitlich etwas zu durcheinander und gegen Ende war ein bisschen die Luft für mich raus. Dennoch ist dies ein sehr herausragendes und sehr lesenswertes Buch und ich hoffe sehr, dass Igor Levit noch lange denjenigen, die zuhören wollen, etwas zu geben hat!

„Zum ersten Mal war mir klar, warum ich das mache, rational und emotional. Ich habe zum ersten Mal nicht das Gefühl, ich müsse liefern – ich hatte etwas zu geben.“ (Buch, S. 220)


Fazit
Eine sehr gelungene Biografie über den Ausnahmemusiker und Mensch Igor Levit, der hoffentlich noch lange „hungrig“ ist auf Neues, damit auch ich einmal in den Genuss komme, ihn in Hamburg in der Elbphilharmonie erleben zu können.