Appell zur politischen Mitbeteiligung

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merleredbird Avatar

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Danke an Vorablesen und den dtv Verlag, die mir ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt haben. Meine Meinung ist davon unabhängig.

Mit „Heimatsterben“ gelingt Sarah Höflich ein überaus gelungenes Debüt! Ich habe das Buch auch direkt mal an meine Eltern weitergegeben. Und ich bin gespannt auf weitere Bücher der Autorin, weil ich in ihr großes Potential sehe, und mir sicher bin, dass das nächste Buch von ihr auch von mir die vollen 5 Sterne bekommen kann.
Denn ich bin der Meinung, dass Heimatsterben sein Potential nicht zu 110% ausgeschöpft hat, und es noch etwas Luft nach oben gibt.

Worum geht es?

Die mindestens 90 Jahre alte Tilde Ahrens liegt im Sterben, und ihre Enkeltochter Hanna reist aus den USA nach Deutschland, um sich von ihrer geliebten Oma zu verabschieden. Tilde bittet Hanna, die Familie nach ihrem Tod zusammenzuhalten. Aber das ist nicht so einfach für die liberale Journalistin, da z.B. ihr Schwager Felix den Vorsitz einer konservativ-nationalistischen Partei inne trägt, und überraschenderweise die Kanzlerwahl gewinnt. Die politische Situation in Deutschland radikalisiert sich immer mehr. Aber Hanna beschließt zu bleiben, und will versuchen, als Gegengewicht für Felix‘ und seine Partei zu dienen, damit diese nicht noch weiter nach rechts abdriften…

Den Titel, aber besonders das Cover finde ich extrem schlau gewählt. Zu sehen ist ein Apfel, der verfault ist. Das „st“ von -sterben im Titel ist leicht verblasst, sodass man sowohl Heimatsterben, als auch Heimterben lesen könnte. Ein wirklich passendes Wortspiel! Denn es geht einerseits um die Erben von Tilde, ihre Nachfahren, ihre Familie. Und es geht auch um den Zerfall, das Sterben eines Landes. Der Apfel ist ein typisch deutsches Obst und somit ein passendes Symbol. Und ein verfaulter Apfel kommt auch im Buch selbst vor, in einer Szene zwischen Hanna und Felix. Dort erklärt Felix die Notwendigkeit von Fäulnis, die dazu dient, einen abgestorbenen Organismus anderweitig nutzbar zu machen (vgl. S.341 in der Print-Ausgabe). Eine Metapher, die auf den Inhalt passt. Für Felix‘ Partei, die BürgerUnion, ist die deutsche Regierung ein Organismus, der optimiert werden muss. Ihre rechtsradikalen Werte sind im übertragenen Sinne die Fäulnis, die die Regierung zerstören werden, um sie dann anderweitig zu nutzen bzw. neu nach ihren Worten zu formen.
Also Hut ab an die Personen, die sich hier so viele Gedanken bei Titel und Covergestaltung gemacht haben!

Hanna und Felix sind für mich die Protagonisten dieses Buches. Auch Hannas Schwester und Felix‘ Frau Trixie, ihr Cousin Joost und ihr Onkel Carl-Friedrich sind wichtige Charaktere, die mir in Erinnerung geblieben sind. Es gibt einfach sehr viele wichtige Charaktere, und für meinen Geschmack etwas zu viele. Im Buch befindet sich ein Stammbaum der Familie Ahrens. Viele Verwandtschaftsbeziehungen werden auch im Buch erklärt. Aber die Verbindung und auch Einbindung der Kruses in die Geschichte kommt mir zu kurz. Deren Kapitel habe ich oft nur überflogen, weil es mir einfach zu viel war und ich den familiären Zusammenhang nicht ganz verstanden habe. Ein paar weniger Charaktere hätten mir hier auch gereicht. Trotzdem waren alle Charaktere gut ausgearbeitet.

Der Schreibstil hat mir gut gefallen. Das Buch ist durch ihre präzise Wortwahl sehr dynamisch und flüssig zu lesen.

Die Handlung ist wirklich spannend, und es ist ein erschreckendes Bild der Zukunft, was gar nicht mehr so unmöglich scheint, angesichts des erneuten Anstiegs rechter und nationalistischer Tendenzen in der Gesellschaft. Das Buch zeigt nochmal mehr, dass wir alle eine Mitverantwortung haben, so etwas zu verhindern, und uns politisch zu beteiligen.
Allerdings habe ich mir bei dem Genre „Politthriller“ noch eine etwas krassere Entwicklung gehofft, und auch mehr Fokus auf die Politik, statt auf die Dramen in der Familie. Ich hatte mir z.B. intensivere Einblicke in das Kanzleramt und den politischen Entscheidungsprozess gewünscht, und einfach noch zwei, drei mehr drastische Entscheidungen der nationalistischen Regierung – weil so würde ich das Buch definitiv nicht als Thriller bezeichnen.

Abgesehen von diesen kleinen Kritikpunkten (für mich etwas zu viele Charaktere, nicht krass genug für einen Thriller und im Politischen sehr oberflächlich) hat mir das Buch doch wirklich gut gefallen, und es hat mich zum Nachdenken angeregt.

Ich vergebe 4 Sterne, eine klare Leseempfehlung und die Bitte, in einem Monat wählen zu gehen und sich gegen rechts zu positionieren. Sonst wird aus der Fiktion von Sarah Höflich bald Wirklichkeit…

„Das ist das Schlimmste an Entscheidungen, dachte Hanna […]. Dass man in der Sekunde, in der man eine traf, eben nie wusste, ob sie richtig oder falsch war. Klarheit gab es nur in der Rückschau.“ (S.133)