Beklemmende Zukunftsvision, die fesselt

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elke seifried Avatar

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Hanna lebt schon seit einigen Jahren in den USA, wurde eben von ihrer Daueraffäre durch eine andere ersetzt, als sie ein Anruf ereilt. „+ 49. Call from Germany. »Oma Tilde ist gestürzt. Sie liegt im Sterben.« Trixies hohe Mädchenstimme klang brüchig, sie rang um Fassung.“, hält sie deshlab nichts und sie sitzt sofort im nächsten Flieger. Viel zu lang ist der letzte Besuch bei ihrer Oma, bei der sie schließlich aufgewachsen ist, her und die Schuldgefühle plagen sie. Kurz bevor Tilde wenig später auf der Intensivstation an Hannas Hand den letzten Atemzug tut, bittet sie diese darum, auf die Familie achtzugeben. Warum und ist in Deutschland bleiben, sie hat Tildes Haus geerbt, eine Option für Hanna?

Als Leser landet man mit Hanna nicht nur in Deutschland sondern auch einige Jahre in der Zukunft. Unter anderem „Die riesige Flüchtlingswelle, von der die Bundesrepublik nach einem heftigen Zerwürfnis mit der Türkei überrollt worden war. Die missglückte Vertrauensfrage. Es standen Neuwahlen an. Und Europa, das gerade erst begonnen hatte, sich langsam von den Nachwirkungen einer mehrjährigen weltweiten Pandemie zu erholen, glich einem Pulverfass.“, beschreibt dabei die politische Situation zu dieser Zeit sehr treffend. Die neu gegründete BürgerUnion, „Auffangbecken für den rechten Flügel der Post-Merkel-CDU und erhielt großen Zulauf von ehemaligen Parteimitgliedern der AfD, die nach einer heftigen Kollision mit dem Verfassungsschutz und einer horrenden Strafzahlung wegen Verstoßes gegen das Parteiengesetz praktisch implodiert war.“, hat eine exponentiell gestiegene Beliebtheit zu verzeichnen und deshalb gilt: „Es schien tatsächlich so zu sein, dass ihr Schwager Felix, den Hanna für einen blasierten, reaktionären Schaumschläger hielt, im Begriff stand, ein ernst zu nehmender Kanzlerkandidat zu werden.“.

In einem ersten Teil „Versuchung“ erfährt man nun, wie sich Hanna trotz aller Bedenken auf Felix einlässt, denn „…ich könnte eine Sparringspartnerin wie dich gebrauchen.« Hanna lachte auf. »Nicht dein Ernst!« »Doch!« »Ach komm! Ich und die BürgerUnion? Das ist absurd!« »Du kennst doch unser Programm noch gar nicht.« »Ich habe genug darüber gehört und gelesen. Du bist ja momentan sehr präsent in den Medien.« »Und? Klingt das alles so schwachsinnig?« Hanna atmete durch. »Nein.« und was die eigentlich gefährlichen Kräfte hinter der Partei sind. In einem zweiten Teil, „Widerstand“, davon, wie sich nicht nur Hanna sondern auch Felix überlegen müssen, wie sie zur Partei und deren Politik, die sich immer weniger dem Einfluss der radikalen Mitglieder erwehren kann, stehen und in einem dritten „Flucht“ dann, warum es nicht nur für Journalisten wie eine Caro, die die Stimme gegen die Regierung erheben besser ist, wenn sie im Flieger in die USA sitzen und es gilt, »Unser Flug«, erwiderte sie leise, »war one-way.«, mehr will ich gar nicht verraten.

So viel vielleicht noch, zeitgleich erfährt man nicht nur auch von Tildes Leben, beginnend mit der Flucht aus Schlesien im Jahr 1945, und deren erzkonservativen Einstellungen, sondern auch von anderen Familienmitgliedern wie z.B. dem verstoßenen homosexuellen Onkel oder der magersüchtigen Schwester Hannas und auch von einigen Parteimitgliedern, beim in die Arbeitslosigkeit Geratenen, der sich schnell gewinnen und gut beeinflussen lässt, angefangen, bis hin zu völlig Radikalen und von ihren rechten Ideen Überzeugten.

Der einnehmende, atmosphärisch dichte Schreibstil der Autorin vermag zu fesseln. Die Seiten sind, einmal festgelesen, regelrecht an mir vorbei geflogen, wollte ich doch auch unbedingt wissen, wie es weitergeht, wohin die Entwicklungen führen und wo sie enden. Allerdings hatte ich erhebliche Anlaufschwierigkeiten, vielleicht auch weil ich ein schlechtes Namensgedächtnis habe und zu Beginn unheimlich viele Charaktere eingeführt werden. Damit hatte ich meine liebe Mühe und erst als ich mir eine handschriftliche Übersicht erstellt habe, habe ich mich zurechtgefunden. In der gedruckten Version gibt es wohl einen Stammbaum, das ist beim ebook, zu dem ich gegriffen habe, immer etwas unglücklich. Ein paar weniger Charaktere hätten meiner Meinung nach aber auf jeden Fall auch gereicht. Nichtsdestotrotz war es unheimlich spannend für mich mitzuerleben, wie sich Menschen beeinflussen lassen, wie weit sie gegen ihre Überzeugungen gehen, denn das bringt Sarah Höflich äußerst gekonnt zum Ausdruck, auch wenn ich bei Hanna vielleicht nicht nachvollziehen konnte, warum sie sich anfänglich auf eine Mitarbeit einlässt. Nicht selten hat mich die Autorin mit ihrem Roman auch berührt und geschockt, sind es doch Versprechen wie, »Ich sage: Wir haben unsere Interessen vernachlässigt. Wir meinen, für politische Bekenntnisse der Vergangenheit geradestehen zu müssen, auch wenn sie uns schaden. Wir nehmen unzählige Flüchtlinge auf, die andere Länder bedenkenlos abweisen. Warum? Aus einem völlig überholten Schuldgefühl heraus? Weil wir als einziges Land auf dieser Welt meinen, immer noch kein Nationalgefühl empfinden zu dürfen?« Er zog seinen Reisepass aus der hinteren Hosentasche und hielt ihn hoch. »Ich möchte dafür sorgen, dass dieses Dokument hier wieder zu dem wird, was es sein soll: Ihre Identität. Ihre Zugehörigkeit. Ihr Privileg. Ein Dokument, das viele Menschen auf dieser Welt gerne hätten. Ein Dokument, auf das Sie stolz sein können. Ich danke Ihnen.«, die vielen Menschen in der Realität jetzt schon zupass kommen und meine größte Angst ist, dass unsere Demokratie in Gefahr gerät und womöglich solche Vokabeln wie „BürgerWehr“ und „Ermächtigungsgesetz“ nicht länger nur Fiktion bleiben dürfen.

Allein schon aufgrund der Tatsache, dass dieser Roman aufzurütteln versucht und gekonnt zeigt in welche Abgründe es führen kann, wenn Toleranz und Demokratie nicht mehr die obersten Ziele sind, gibt es von mir eine unbedingte Leseempfehlung. Außerdem wird hier politische Fiktion äußerst spannend mit einer Familiensaga verknüpft und dabei ein explosiver Mix gebildet, der von Seite zu Seite mehr ans Buch fesselt. Wegen meiner Anlaufschwierigkeiten mit den vielen Namen reicht es für mich nicht mehr ganz zu fünf Sternen. Aber sehr gute vier sind ja auch nicht zu verachten.