Bewegendes Kinderschicksal

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rippchen Avatar

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Ein brisantes Thema: Das Aussetzen eines Babys und die spätere Suche des Mädchens nach der eigenen Identität ist das brisante Thema von Marjorie Celonas Roman „Hier konnte ich zur Welt kommen“.
Die Szene einer offensichtlichen Verzweiflungstat, in der eine junge Mutter beim YMCA in Vancouver Island ihr Baby in einem grauen Sweatshirt - und mit einem Taschenmesser als „Beigabe“ - aussetzt, wird von einem Zeuge beobachtet. Der als „Seher“ bezeichnete Mann schreitet nicht ein und gibt zudem bewusst falsche Informationen über das Aussehen der Mutter an die Polizei weiter – und verhinderte damit deren Auffinden. Ob Fehlentscheidung oder nicht, das wird sich wohl erst im weiteren Verlauf des Buches klären. Auf jeden Fall aber ein bedeutungsvoller Entschluss, der für das Baby in eine nicht besonders rosige Kindheit mündet: Zwischen diversen Pflegeeltern und einem Heim wird sie herumgereicht wie der sprichwörtliche Wanderpokal. Dieses „bewegte“ Schicksal verdeutlichen auch ihre häufig wechselnden Namen: Lily, Shandi, Shannon, Samantha.
Angesichts der eklatanten Ereignisse in ihrem Leben präsentiert sich die junge Hauptakteurin im Verlauf der Geschichte mal trotzig und verzagt, mal ängstlich und verzweifelt, immer aber auf der Suche nach menschlicher Wärme und Nähe. Ihre größte Hoffnung ist es, irgendwo dazu zu gehören und bedingungslos geliebt zu werden - ein Wunsch, der zumindest in der LP nicht in Erfüllung geht. Stattdessen dominieren Geringschätzung, Missachtung und Wertlosigkeit ihr Leben.
Es wird sicher spannend sein zu erfahren, welche weiteren Erlebnisse auf sie warten und welche Geheimnisse sie auf der Suche nach ihrer wahren Identität ent- und aufdeckt.

Angesichts der rasch wechselnden Charaktere in der LP nimmt das Geschehen schnell Fahrt auf. Zugleich hat die Autorin den brisanten Stoff mit viel Fingerspitzengefühl literarisch aufbereitet – und mit der Schilderung aus der Sicht eines ungewöhnlichen Ich-Erzählers gewagt umgesetzt: Aus der Erzählperspektive eines Babys und Kindes – allerdings ohne die beispielsweise in Emma Donoghues Roman „Raum“ dominierende Kleinkindsprache - wird hier ein dramatisches Geschehen realitätsnah präsentiert.
Dieser kindliche Erzählkosmos zwischen Hoffnung und Zuversicht, zwischen Enttäuschung, Angst, Trauer und Wut ist menschlich bewegend und zugleich derart faszinierend, dass man sich dem Geschehen als Leser kaum entziehen kann. Die weiteren Fragen lauten: Woher kommt das Kind, wohin geht sie – und welche Rolle spielt „der Seher“ in ihrem Leben?
Grundsätzlich spiegeln sich in diesem gesellschaftlichen Soziogramm diverse Geschehen wie das Aussetzen, aber auch Armut, Drogensucht und familiäre Gewalt, die eine Gesellschaft nicht gern vor Augen geführt bekommt – und dem sie sich doch stellen muss. Die Herausforderung heißt: Hinschauen, erkennen, helfen – und vor allem mehr (Mit-)Menschlichkeit zeigen.
Insgesamt ein Roman mit Sog-Wirkung, der thematisch, stilistisch und vor allem emotional noch lange nachwirkt.