Wo komm ich eigentlich her?

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ilonar. Avatar

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Das Cover erinnert mich ganz spontan an einen Matratzen-Werbespot. Aber mit Schlafen hat dieses Buch eigentlich nichts zu tun. Vielmehr mit Leben oder vielleicht noch besser mit dem Hunger nach Leben und eng damit verknüpft auch mit dem Hunger nach Wissen über die eigene Herkunft.
Das Buch beginnt an einem kühlen Morgen auf Vancouver Island, man schreibt den 28. August und es ist 5:15 Uhr in der Frühe. An diesem Morgen legt eine junge Frau im blauen Overall ein kleines Bündel auf eine Türschwelle und verschwindet. Der Inhalt des Bündels – ein Neugeborenes, ein Mädchen. Die Mutter hat das Baby in ein graues Sweatshirt gewickelt und als einzigen Hinweis findet der geheimnisvolle Beobachter der Szene ein Schweizer Offiziersmesser zu Füßen des Mädchens.
Nach verschiedenen sehr schwierigen Stationen in Pflegefamilien kommt das kleine Mädchen, jetzt Shannon genannt, zu einer liebevollen Pflegemutter. Hier erlebt sie zum ersten Mal Familie, denn in ihrem neuen Zuhause hat sie auch eine nur wenig ältere Schwester. Doch ihr Aufwachsen wird immer von den drängenden Fragen nach ihrer Herkunft begleitet. Mit zunehmendem Alter probiert Shannon sich aus, hat Kontakt zu Drogen und kommt schließlich eines Nachts nicht nach Hause. An dieser Stelle erlebt sie nicht nur einen ersten und sehr ernsthaften Bruch zu ihrer Pflegemutter, durch den sie erst jetzt ihre doch recht enge Bindung zu Mutter und Schwester erkennt.
Mit 16 Jahren schließlich beginnt sie, Nachforschungen nach ihrer leiblichen Mutter anzustellen. Über den Mann, der die junge Frau damals beobachtete, als sie ihr neugeborenes Baby aussetzte, erhält sie erste Hinweise. Und ihn ausfindig zu machen, war schon mit ersten Grenzüberschreitungen verbunden. Weitere werden folgen.
Kann dieser Mann ihr weiterhelfen und will er das überhaupt? Eine Frage, die sich nicht nur Shannon stellt, sondern der damalige Beobachter selbst ebenfalls. Hätte er damals anders handeln sollen, hätte er alles sagen sollen was er wusste?
Reizvoll an diesem Buch ist die Erzählweise. Die Kapitel wechseln sich ab und somit erleben wir einerseits das Leben von Shannon ganz real, eine zweite Ebene aber geht in der Zeit zurück und erzählt vom Leben und Aufwachsen der Mutter. Der Leser weiß somit immer ein wenig mehr als Shannon selbst. Aus diesen Passagen wird sehr deutlich, warum die Mutter ihr Baby nicht behalten konnte.
Und wer dieses Buch offenen Herzens liest, wird wieder einmal mehr feststellen, dass ein Fall, ein Ereignis erst dann zu beurteilen ist, wenn man wirklich alle Fakten und Sichtweisen dazu kennt. Aber wie oft bleiben wir auch selbst in einem halbfertigen Bericht stecken und laufen Gefahr, in ein Vor-Urteil zu geraten?
Der Roman von Marjorie Celona ist eine sehr spannende Geschichte, die uns in menschliche Abgründe blicken lässt, es aber auf der anderen Seite auch schafft, dass wir Verständnis für Menschen am Rande der Gesellschaft aufbringen können.