Der Fährmann

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theresia626 Avatar

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„Als Daniel den Brief bekam, glaubt er zunächst, er käme aus der Hölle.“ S. 7 Daniel hätte ahnen müssen, daß Post von seinem Zwillingsbruder nichts Gutes bedeuten kann. Max lädt ihn zu einem Besuch nach Himmelstal ein, einer Luxusklinik für gut situierte Patienten. Diese erholen sich entweder von ihren Depressionen oder wie der manisch-depressive Max von seinem Burnout, das glaubt zumindest Daniel.

Lange hatte Daniel von Max nichts mehr gehört, selbst zur Beerdigung ihrer Mutter konnte er Max nicht erreichen. Wenn er sich einmal meldete, dann nur kurz am Telefon. Als eineiige Zwillinge geboren, werden beide als Kleinkinder voneinander getrennt und als sich dann auch ihre Eltern scheiden lassen, ist die Trennung für immer besiegelt, nur die Geburtstage werden noch gemeinsam verbracht. Daniel wächst behütet, Max bei seiner Stiefmutter auf, die auf seine Psyche einen sehr negativen Einfluß hat. Nach dem Studium arbeitete Daniel als Dolmetscher am Europaparlament und betrachtet sich als Fährmann zwischen zwei Sprachen. Eine schwere Depression beendet seine erfolgreiche Laufbahn, jetzt ist er als Aushilfslehrer tätig. Max hingegen gründete verschiedene Firmen, reiste in der Weltgeschichte umher und verschwand zwischendurch immer mal von der Bildfläche. Eine bezahlte Reise in die Schweiz, dann noch ein paar Tage Urlaub auf der Alm, so war Daniels Plan. Es wird ganz anders kommen, anders, als Daniel es sich jemals hätte träumen lassen. Max hatte seine Falle schon aufgestellt, Daniel mußte nur noch hineintappen, und das tat er mit offenen Augen. Konnte oder wollte er die unheildrohenden Zeichen nicht sehen?

Max überredet Daniel zu bleiben und beschreibt Himmelstal in den schillernsten Farben. Hier lebt man wie im Himmel auf Erden, man darf alles machen, Hauptsache man ist Mitternacht und frühs um 7.00 Uhr wieder in seiner Hütte. Beide Brüder verbringen zwei erstaunlicherweise friedliche Tage miteinander. Immerhin konnte Max’ Laune in kürzester Zeit von Euphorie in Wut umschlagen. Dann bittet Max Daniel um einen Gefallen. Er möchte für drei, höchstens vier Tage den Platz mit ihm tauschen, weil er in Italien neues Geld beschaffen will, um seine Rechnungen in Himmelstal begleichen zu können. Er wäre geheilt und könnte dann die Klinik für immer verlassen. Max erzählt Daniel die Geschichte vom Fährmann, die ihm seine Stiefmutter vor vielen Jahren erzählte. … „Die Ruder einem anderen übergeben. …Er brauchte nur einen Passagier zu bitten, eine Weile zu rudern. Dann war er frei und konnte abhauen. …“ S. 58 An dieser Stelle hätte Daniel hellhörig werden und die beschauliche Alpenidylle schnellstens verlassen müssen. Später kann er sich nicht erinnern, überhaupt mit einem Rollentausch einverstanden gewesen zu sein. Max nimmt alle persönlichen Sachen von Daniel mit und taucht natürlich nicht nach der verabredeten Zeit wieder auf. Für Daniel beginnt ein Ritt durch die Hölle. Himmelstal ist ein sicherer Ort, das Sicherheitssystem stützt sich auf drei Zonen. Die Besucher werden auf Listen geführt und dürfen nur nach vorheriger Kontrolle durch uniformierte Wachleute die Klinik betreten. Himmelstal entpuppt sich als Kolonie, hier scheint Endstation zu sein, ein Entkommen schier unmöglich. Die Freiheit ist so nah und doch so unerreichbar fern.

Marie Hermanson hat mit „Himmelstal“ einen interessanten Roman geschrieben und Reales mit Phantasie sehr gut vermischt. Sie baut den Spannungsbogen langsam auf, beginnt mit der Lebensgeschichte der Zwillinge und ab der Mitte des Romans, als Daniel beginnt, das Verwechslungsspiel aufdecken zu wollen, wird es richtig spannend, so daß man das Buch nicht mehr aus der Hand legen mag. Neben ihrem Studium der Literaturwissenschaft und Soziologie hat die Autorin als Pflegekraft in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet und läßt gekonnt ihre Erfahrungen in den Roman einfließen. Wird Daniel diesem Alptraum entfliehen können? Ein Psychothriller, der einen schaudern läßt.