Die Dinge erkennen, wie sie sich in Wahrheit verhalten

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buecherfan.wit Avatar

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Nach der Leseprobe mit der Beschreibung des bestialisch ermordeten ersten Opfers hatte ich meine Zweifel, ob Stephan M. Rothers Thriller “Ich bin der Herr deiner Angst” mehr ist als eine Aneinanderreihung grausamer Morde, ob es ihm gelungen ist, einen spannenden und wenigstens teilweise originellen Thriller vorzulegen. Nach der Lektüre des Romans muss ich sagen, dass meine Erwartungen übertroffen worden sind.

Der Roman beginnt mit einem Vorspiel, in dem ein Unbekannter einen alten Mann, der in einem Wohnwagen in einer heruntergekommenen Gegend von Hamburg lebt, durch ein Fernglas beobachtet und sich an seiner offenkundig panischen Furcht weidet. Dann wird das Ermittlerteam Jörg Albrecht und Hannah Friedrichs an den ersten Tatort gerufen. In dem zwielichtigen Lokal Les Fleurs du Mal im Hamburger Rotlichtviertel ist die übel zugerichtete Leiche des Kommissars Ole Hartung gefunden worden, der dort im Auftrag von Albrecht verdeckt ermittelt hatte. Dann wird mit Kerstin Ebert eine weitere Kollegin ermordet, und Hauptkommissar Albrecht muss sich fragen, ob es jemand auf sein Team und damit auf ihn selbst abgesehen hat. Es geschehen weitere Morde. Täter und Motiv sind völlig unklar. Mit jedem neuen Mord hat der Kommissar zwar neue Fäden und Puzzleteilchen in der Hand, aber er kann die Fäden nicht verknüpfen, und die Puzzleteilchen wollen sich nicht zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Albrecht weiß, dass er Fehler macht, dass er Dinge übersieht. Er kommt mit seinen Erkenntnissen immer ein bisschen zu spät und trägt schwer an der Last der Schuld für die wachsende Zahl von Opfern. Seine Chefin Isolde Lorenz zwingt ihn, mit dem bekannten Psychologen Professor Dr. Hartmut Möllhaus zusammenzuarbeiten, aber es ist seine übergewichtige, stets geschmacksfern gekleidete Sekretärin Irmtraud Wegner, die mit dem Hinweis auf die Parallelen zum Traumfängerfall den entscheidenden Denkanstoß gibt. 24 Jahre zuvor hatte der Psychologe Dr. Maximilian Freiligrath eine große Zahl von Menschen getötet, indem er auf ihre größten Ängste und ihre dunkelsten Geheimnisse Bezug nahm. Der Traumfänger hat seine Strafe verbüßt und wird seitdem in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Einrichtung therapiert. Albrecht erhofft sich Hilfe von diesem Mann, der als Sachverständiger für bizarre Morde gelten kann, bei denen Täter und Motiv nicht erkennbar sind.

Freiligrath weigert sich beharrlich, über seine eigenen Taten zu sprechen und lässt sich lediglich auf eine neutrale wissenschaftliche Diskussion zu seinen Bedingungen ein. Bald diskutieren die beiden Männer jedoch nicht mehr auf Augenhöhe, sondern Albrecht wird zu einem Probanden, mit dem Freiligrath seine Spielchen treibt und den er fast nach Belieben manipuliert. Zähneknirschend spielt Albrecht nach den Regeln seines Gegenübers, ohne jemals zu vergessen, dass er einen verurteilten Mörder vor sich hat und ohne ihm völlig zu vertrauen. Freiligrath verfügt eindeutig über Täterwissen, obwohl er nicht der Täter sein kann. Albrecht weiß, dass seine Ermittlung ohne Freiligraths Hilfe zum Scheitern verurteilt ist. Das Kräftemessen zwischen den beiden gehört zu den spannendsten Passagen des Romans. Die Lösung in einem großen Finale kommt völlig überraschend, und in einem Epilog wird angedeutet, dass das nicht einmal das Ende der Geschichte ist.

Zwei Dinge machen diesen Roman besonders reizvoll. Da ist zum einen die wechselnde Erzählperspektive. Aus Jörg Albrechts Sicht wird in der dritten Person erzählt, während Hannah Friedrichs als Ich-Erzählerin auftritt. An mehreren Stellen wird in den sogenannten Zwischenspielen aus der Perspektive des Täters berichtet. Der Leser beobachtet ihn bei der Planung und Durchführung seines Experiments und erfährt, dass die Opfer Objekte einer Versuchsanordnung sind.

Noch bedeutender und origineller ist jedoch der erkenntnistheoretische Diskurs, der dafür sorgt, dass sich der Roman stark von der üblichen Thrillerproduktion unterscheidet. Wahrnehmung und Erkenntnis sind hier die wichtigsten Themen. Was ist Wahrheit? Wie gelangen wir zu Erkenntnissen, die wahr sind? Leitmotivisch durchzieht vor allem das Zitat “Intentio vera nostra est manifestare ea, quae sunt, sicut sunt” (Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen) im Original und in deutschen Variationen den gesamten Roman. Besonders Hauptkommissar Albrecht quält sich mit der Frage nach der richtigen Erkenntnis, weil er weiß, dass er diesen Fall nur lösen wird, wenn er die Dinge der wirklichen Welt als das erfasst, was sie in Wahrheit sind (z.B. S. 345). Die philosophischen Exkurse machen den Roman für mich nicht weniger spannend, sondern sie geben ihm Substanz. Den Leser mit langem Atem, der sich auf den mühseligen Erkenntnisprozess einlässt, erwartet eine interessante Lektüre. Wer allerdings mit einem handlungsprallen Reißer rechnet, wird enttäuscht.

Zum Schluss hätte ich noch eine Frage an Herrn Rother: Was genau müssen wir uns unter einem finalen Rettungsschutz (S. 541) vorstellen?