Künstliche Welten

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simone1711 Avatar

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Distanziert, wie aus weiter Entfernung und emotionslos beschreibt die 24jährige Leila wie es dazu kam, dass sie die Identität einer Selbstmöderin in der virtuellen Welt übernahm und welche Folgen dies hatte.

Ich fragte mich während des Lesens einige Male, ob dies alles wirklich wahrscheinlich ist. Das lag nicht daran dass die Geschichte unglaubwürdig erzählt worden wäre. In meiner persönlichen Vorstellungskraft war ein solches Szenario jedoch nicht vorhanden. Weder würde ich mich auf etwas Vergleichbares einlassen, noch finde ich, dass man lebensmüde Menschen bei ihrem Vorhaben unterstützen sollte. Natürlich hat jeder das Recht, sein Leben zu beenden, aber dann eben mit allen Konsequenzen, und das beinhaltet auch den Schmerz der Hinterbliebenen.

Leila ist vermutlich das, was man einen Nerd nennen kann. In den Weiten des Internets kennt sie sich aus, dort ist sie daheim. Seit ihre Mutter starb, die an MS erkrankt war (was ja leider unheilbar ist), erledigt sie am PC ihren Job als Softwaretesterin und erforscht ansonsten philosophische Fragen. Ihre Umgebung ist ihr relativ egal, ihr Aussehen ebenfalls, überhaupt wirkt sie sehr gleichgültig und abgestumpft, obwohl sie sich viele Gedanken macht und intelligent ist. Sie stößt auf eine Homepage namens redpill, angelehnt an die Matrix-Trilogie, bei der die Rote Pille die Entscheidung bedeutet, eine virtuelle Scheinwelt zu verlassen und sich mit der Realität auseinanderzusetzen, egal sie unschön sie sein mag. Aufgrund ihrer Gedankengänge und ihres Wissens fällt sie dem Betreiber der Website, Adrian, auf und wird persönlich von ihm kontaktiert.

Adrian sieht es als Pflicht der Mitmenschen, andere in ihren Selbstmordabsichten und somit ihrem freien Willen, ihr Leben zu beenden wenn ihnen danach ist zu unterstützen und befragt bei einem persönlichen Gespräch auch Leila zu ihren Ansichten hierzu. Einerseits scheint sie das Bedürfnis nach Anschluss und Akzeptanz bzw. Adrians Bewunderung dazu zu bringen, andererseits ist sie neugierig auf diese Aufgabe. Und so lernt sie Tess kennen, manisch-depressiv und Ende 30. Höchst attraktiv, mit großem Freundeskreis ist es auf den ersten Blick nicht ersichtlich warum sie nicht mehr leben möchte. Sie macht ihre Gründe in Briefen an Leila klar, die beiden fangen an zu skypen (wobei nur Leila Tess sehen kann), bis es für Tess Zeit ist "auszuchecken". In der Zeit bis dahin versucht Leila herauszufinden, wie Tess tickt, um sie auf Facebook authentisch vertreten zu können. Das ist jedoch gar nicht so leicht, denn Tess besteht förmlich aus Meinungsänderungen, und nicht selten findet Leila durch Zufall Dinge heraus, die im Prinzip von höchster Wichtigkeit sind, Tess jedoch hat sie vergessen oder schlicht verschwiegen. Beim letzten Telefonat scheint Tess Angst zu haben, vielleicht auch Zweifel, womit Leila besonnen umgeht, ohne Tess jedoch in irgendeiner Form zu beeinflussen.

Schließlich ist es soweit - offiziell zieht Tess nach Sointula in Kanada, wohin sich von ihren Freunden und ihrer Familie, zu der sie kein besonders gutes Verhältnis hat, wohl eher keiner verirren wird. Sie will dort ein neues Leben anfangen, und Leila macht es sogar Spaß, dieses zu erfinden und zu dokumentieren, ähnlich, als statte sie einen Avatar aus. Gewissenhaft informiert sie Adrian über ihre Aktivitäten. Zu Problemen kommt es schließlich, als Tess' Mutter ein Telefonat mit ihrer Tochter führen will. Leila behilft sich mit einem Programm das ihre Stimme verfälscht, doch Marion scheint etwas zu ahnen. Und dann nimmt Connor, eine Ex-Affäre von Tess, Kontakt per E-Mail auf...

Immer mehr verwischt für Leila die Grenze zwischen ihr und Tess und immer mehr schreibt sie Connor als sie selbst. Auf den regen E-Mail-Verkehr mit dem angeblich von seiner Familie getrennten Connor bildet sie sich eine Seelenverwandtschaft ein, sie fädelt Begegnungen ein, in die sie große Hoffnungen setzt und dann Erklärungen dafür findet, warum sie doch zu nichts geführt haben. Leila lebt in ihrer eigenen Welt - und erwacht unsanft nach einer demütigenden Begegnung mit Connor, als sie ihm die Wahrheit über Tess erzählt und erfahren muss, dass Connor sich nur für diese interessiert - selbst wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass Tess sich überhaupt auf eine neue Beziehung mit ihm eingelassen hätte, da sie ihn nie erwähnt hat und in ihrem Archiv unter "Unwichtige Männer" führt.

Mittlerweile wird bekannt, dass Adrian Geld dafür kassiert hat, dass er potentielle Selbstmörder mit Computerfreaks zusammenbrachte, die dann ihre virtuelle Identität übernehmen. Und so zeigt Leila sich schließlich selber an. Auch wenn sie strafrechtlich außer eine Nacht in U-Haft nichts zu befürchten hat - es bleibt die Frage, inwieweit es moralisch vertretbar ist was sie getan hat, ohne groß nachzufragen oder die Folgen zu bedenken. Tess' Mutter konfrontiert sie damit - sie sieht es als Anmaßung, dass Leila das Leben ihrer Tochter übernehmen wollte. Hätte sie sich nicht bereit erklärt, würde Tess vielleicht noch leben? Sie will Antworten über den Tod ihrer Tochter, die Leila ihr jedoch nicht geben kann.

Leila selber lässt Tess' Schicksal keine Ruhe, und so folgt sie ihren letzten Spuren zu einer Kommune in Spanien, wo sie ihr Foto herumzeigen will und vielleicht erfahren, ob und wie sie umgekommen ist. Das führt jedoch zu wenig, außer zu einer Verhaftung, da sie am Lagerfeuer einer anderen Bewohnerin namens Annie gesteht, dass sie ihre Mutter am Ende mit Morphium getötet hat. Annie jedoch ist nicht diejenige, die sie angezeigt hat und hilft ihr, eine Anklage zu verhindern. Daraufhin verlässt Leila Spanien wieder ohne viel erfahren zu haben. Laut Facebook wurde Tess noch in Alhambra gesehen und danach nicht mehr. Ist sie wirklich tot?

Ob sie sich letztlich tatsächlich umgebracht hat oder einfach die Gelegenheit genutzt, ein komplett neues Leben anzufangen, erfährt man nicht. Eine geheimnisvolle Facebookfreundin lässt auf letzteres schließen. Jedenfalls wagt sich Leila weiter aus ihrer Austernschale als jemals zuvor, findet Freunde und beginnt sogar einen Job in der "wirklichen" Welt. Diese Entwicklung hat mir sehr gefallen und lässt Hoffnung entstehen, vielleicht sogar mehr als die Wahrscheinlichkeit, dass Tess noch lebt. Insgesamt hat mir der Schreibstil sehr gut gefallen, auch wenn ich Leilas Entscheidungen nicht immer nachvollziehen konnte. Ich fand nicht alles logisch und durchdacht, trotzdem hat mir das Buch durch seine strukturierte und ordentliche, ja fast "saubere" Erzählweise sehr viel Spaß gemacht. Ich würde es jedem weiter empfehlen, der sich für die virtuelle Welt interessiert.