Bewegende Reise durch die Südtiroler Geschichte

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steflu Avatar

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Kennt Ihr das auch? Man steht an einem Ort, der geschichtlich eine große Bedeutung hat. Weil dort schlimme Dinge passiert sind. Man ist auch bewegt, kann sich aber nicht wirklich in die Geschehnisse von früher hineinversetzen. Irgendwie ist da eine innere Distanz. Und dann liest man ein Buch zu diesem Ort. In dem ein persönliches Schicksal geschildert wird. Plötzlich brechen alle Dämme, denn dieser Ort ist nicht mehr einfach nur ein Ort. Denn als Leser hat man plötzlich Menschen und, das was sie durchmachen müssen, direkt vor Augen.

Genauso erging es mir mit dem Reschensee und "Ich bleibe hier" von Marco Balzano.

Im Juni 2012 war ich zum ersten Mal in Südtirol. Auf dem Hinweg haben wir eine der vielen Sehenswürdigkeiten dieses Landstrichs "mitgenommen": den einsam aus dem künstlich angelegten Reschensee aufragenden Kirchturm. Dieses Staudamm-Mammutprojekt wurde nach dem Zweiten Weltkrieg vollendet und sorgte dafür, dass zwei Südtiroler Bergdörfer untergingen und die ehemaligen Bewohner zwangsumgesiedelt wurden. Nicht einmal eine Entschädigung haben sie zunächst erhalten. All das konnte man an den Schautafeln am Reschensee nachlesen. Und ja, das hat mich durchaus berührt. So richtig greifen konnte ich das Schicksal dieser Menschen aber nicht. Zu unvorstellbar war das, was ihnen widerfahren ist.

Nun habe ich "Ich bleibe hier" gelesen und plötzlich wurde die Geschichte dieser Dörfer für mich erlebbar. Hat mich regelrecht mitgerissen. Mehr als einmal hatte ich beim Lesen Tränen in den Augen. Und ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen und habe es an nur einem halben Tag verschlungen.

Marco Bolzano lässt in poetischen Worten Lehrerin Trina von ihrem Leben in Graun erzählen. Sie tut dies in Form eines quasi ausgedehnten Briefes, den sie an ihre verschwundene Tochter schreibt.

Trina wächst als Kind von Bergbauern auf. Lässt sich zur Lehrerin ausbilden. Verliebt sich zum ersten Mal. In eine Frau! Heiratet dann aber doch den verwaisten Bauernsohn von nebenan. Bekommt zwei Kinder. Und verliert sie gewisser Weise beide.

Und all das geschieht vor der bewegten Geschichte Südtirols von nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1950er Jahre hinein. Erst werden die Bergbauern, die viele Jahrzehnte ein friedliches Leben im Einklang mit der Natur geführt haben, mit der zwangsweisen "Italienisierung" ihres Landstrichs konfrontiert. In diesem Zuge wird ihnen z.B. die deutsche Sprache verboten. Es folgen der Faschismus, die Annektierung durch Nazi-Deutschland und im Falle von Graun schließlich der Untergang des gesamten Dorfes.

Wie unwirklich erscheint diese Vergangenheit, wenn man sie mit der friedlichen Gegenwart Südtirols vergleicht. Für mich einer der schönsten Landstriche in ganz Europa. Wundervolle Landschaft, fantastisches Essen, hervorragende Infrastruktur und ein hoher Freizeitwert - hier findet man alles. Und irgendwie stimmt einen das hoffnungsvoll, wenn man auf die Welt blickt. Zeigt es doch, wie weit eine Region kommen kann, die sich noch in den 1960er Jahren in einem bürgerkriegsähnlichen Stadium befunden hat.

Mich konnte "Ich bleibe hier" in allen Belangen überzeugen. Es hat mich berührt, gefesselt und mir eine weitere Facette Südtirols gezeigt. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle den beinahe poetisch anmutenden Schreibstil von Marco Balzano. Der hat mir ganz wunderbar gefallen.

Für mich schon jetzt eines der Lesehighlights 2020. Das mich hoffen lässt, 2021 wieder nach Südtirol zurückkehren zu können....