Faschismus Eins, Faschismus Zwei. Und danach noch immer Kapitalismus.

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sternchenblau Avatar

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Den Grauner Kirchturm im Reschensee habe ich in meiner Kindheit gesehen. Ich dachte, wir wären nur daran vorbeigefahren, aber meine Mutter hat mir erzählt, dass wir dort wirklich standen, als ich etwas 7 oder 8 Jahre alt war.

„Im Laufe weniger Jahre ist der aus dem Wasser ragende Kirchturm zu einer Touristenattraktion geworden. Die Sommerfrischler staunen zuerst und wandern dann bald unbekümmert weiter. Sie machen Fotos mit dem Turm im Hintergrund und setzen alle das gleiche blöde Lächeln auf. Als wären unter dem Wasser nicht die Wurzeln der alte Lärchen, die Fundamente unserer Häuser, der Platz, auf dem wir uns versammelten. Als hätte es die Geschichte nicht gegeben.“

So schreibt die Ich-Erzählerin am Ende das Buches darüber.

Ich war auch so eine „Sommerfrischlerin“, aber so unbekümmert bin ich selbst in jungen Jahren nicht damit umgegangen. Vielleicht habe ich die Bedeutung gespürt, vielleicht war einfach nur die Sage, dass manchmal die Kirchglocken tief unten im See noch geläutet werden, einfach zu schauerlich. Der Kirchturm auf dem Cover hat gereicht, dass mich das Buch interessiert hat.

Da wusste ich noch nicht viel mehr. Von unseren Südtirolurlauben als Kind wusste ich auch von den Seperatisten dort, obwohl sich in den 80ern die Lage schon längst beruhigt hatte. Die Geschichte der Menschen ist ein Fluss mit vielen Zuläufen. Was mir gar nicht bewusst war, wie sehr die Seperationsbestrebungen mit den beiden faschistischen Systemen zu tun hatte. Durch das Buch sehe ich nun, wie der Fluss alles verbindet, auch, wenn auf die Seperatisten gar nicht eingegangen wird.

Trina, die Ich-Erzählerin, wollte eigentlich Lehrerin werden. Dann kommt Mussolini an die Macht, Deutsch ist unerwünscht. Trina lernt Italienisch, um doch noch eine Anstellung zu bekommen, aber auch das nützt ihr nichts. Um ihrem Schwarm Erich zu imponieren, unterrichtet sie verbotenerweise Deutsch.

„„Dann lass uns die Kinder nehmen und wegziehen.« »Nein!«, schrie er. »Warum willst du hierbleiben, wenn wir keine Arbeit mehr haben, nicht mehr Deutsch sprechen dürfen und sie unser Dorf zerstören?« »Weil ich hier geboren bin, Trina. Mein Vater und meine Mutter sind hier geboren, du bist hier geboren, unsere Kinder sind hier geboren. Wenn wir weggehen, haben die anderen gewonnen.«“

Viele der Geschehnisse erscheinen in der Gemengelage fast zwangsläufig. Die einzelnen Menschen gehen im Räderwerk der Geschichte unter. Viele Dörfler hoffen lange, dass darin auch die Idee des Staudamms untergehen wird.

Auf den italienischen Faschismus folgt der deutsche. In Trinas Leben wurde irgendwann dazwischen und auch deswegen eine große Leerstelle gerissen. Den Südtiroler:innen, die nicht zuvor „heim ins Reich“ sind, ist auch dieser nicht wohlgesonnen. Manche biedern sich an. Das ist nicht nur für Trina eine schmerzliche Erfahrung.

Dann folgt die Befreiung von den Nazis. Aber keine Befreiung von der Staudammidee. Denn der Kapitalismus wirkt fort und mit ihm auch dessen Begehrlichkeiten.

„Der Mann mit Hut zuckte die Schultern und nickte verständnisvoll. Er kannte sie gut, die Leute, er reiste schon ein Leben lang durch die Welt. Sie waren überall gleich, nur auf ihre Ruhe bedacht. Bloß nichts hören und nichts sehen. Auf diese Weise hatte er schon andere Dörfer geräumt, Stadtviertel entkernt, Häuser abgerissen, um freie Bahn für Gleise und Straßen zu bekommen, Felder zubetoniert, an Flussläufen Fabriken gebaut. Und seine Arbeit war nie krisengefährdet, denn sie florierte, wo das blinde Vertrauen ins Schicksal herrschte, der alles erleichternde Glaube an Gott, die Nachlässigkeit der Menschen, die nur ihre Ruhe wollen.“

Mit Trina bekommt diese Zeit und dieser Ort ein menschliches Gesicht und ich konnte sehr gut mit ihr mitfühlen.

Am Ende fehlte mir vielleicht ein Wenig die Quintessenz: Wie gehen wir damit um, wenn wir so behandelt werden? Vom Faschismus oder vom Kapitalismus. Wenn der Kampf, in dem sich gerade Erich verfängt, die Zerstörung der Heimat nicht aufhalten lässt? Wie gehen wir mit den Vertrieben um, die darunter leiden? (In der gestrigen Nacht, während ich das Buch zu Ende gelesen habe, ist das Flüchtlingslager in Moria abgebrannt)

Marco Balzanos Roman hat mich sehr bewegt. Vielleicht auch gerade, weil er darin als Italiener den Blickwinkel der damals Unterdrückten einnimmt. Neben der Quintessenz waren es mehrere kleinere Aspekte, die zusammenkamen, so dass ich nicht die volle Sternenzahl vergeben habe. Im ersten Drittel gab es mal einen Abschnitt, der mir sehr analenhaft vorkam. Trina und Erich führen für mich eine seltsame Ehe, auch, wenn die Liebe spürbar ist. Irritierend fand ich, wie die beiden überhaupt zusammenkommen. Ich fand Trina eine spannende Protagonistin, aber manchmal fehlte mir die feministische Position und Aussage hinter ihr. Historisch hätte sie sich über vieles vielleicht keine Gedanken gemacht, aber manchmal scheint sie mir zu passiv im Vergleich zu ihrer doch sehr rebellischen Grundhaltung. Dass sie ihre Wurt später zwar in Artikeln und Briefen aufschreibt, aber ihren Namen nicht genannt sehen will, fand ich ebenfalls irritierend. Gestört hat mich zudem, dass sowohl das N- wie auch das Z-Wort benutzt wird. Im ersten Fall markiert es die rassistische Einstellung gegenüber den Süditalienern, im zweiten will die Ich-Erzählerin nicht unordentlich herumlaufen. In beiden Fällen fand ich die Reproduktion dieser rassistischen Begriffe unnötig.

Fazit
Ein hochspannender Ort, bewegend erzählt, über drei Systeme, die aber letztendlich den Protagonist:innen alle die Heimat nehmen. Eine Empfehlung und 4 von 5 Sternen.