Italiens vergessene Geschichte

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petris Avatar

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Vor drei Jahren las ich Bolzanos Roman „Das Leben wartet nicht“, in dem es um einen kleinen Jungen aus Sizilien geht, der ganz alleine in den Norden geschickt wird, um dort Arbeit zu finden. Und das in den 50er Jahren. Ein trauriges Kapitel europäischer Geschichte, von dem ich nichts wusste. Der Roman hat mich tief bewegt, einerseits die Widerstandsfähigkeit dieses Jungen, Ninetto, andererseits die Tragik des Aufwachsens in bitterer Armut.

In seinem neuen Roman widmet sich Bolzano wieder einem unschönen Kapitel der italienischen Geschichte. Diesmal geht es um das kleine Dorf Graun in Südtirol und das Vinschgau. Erzählt wird diese Geschichte über die fiktiven Charaktere Trina und Erich. Nach dem 1. Weltkrieg kam Südtirol zu Italien, vom Krieg relativ unbehelligt, lebte man im Tal einfach weiter wie immer. Doch dann kamen die italienischen Faschisten an die Macht, Deutsch wurde verboten, die einheimische Bevölkerung diskriminiert, zum Auswandern gezwungen, Italiener aus dem Süden angesiedelt. Trina, eine junge Frau, gerade fertig mit der Lehrerausbildung, bekommt keinen Job, ihre Familie beschließt aber nicht nach Deutschland ins „Reich“ zu gehen, heimlich, in Untergrundschulen gibt sie Unterricht auf Deutsch. Ihr Mann Erich hasst die Faschisten, doch ihn treibt das nicht, wie viele andere, in die Arme der Nazis, in den viele große Hoffnungen setzen, auch, dass er das Staudammprojekt, das das Dorf bedroht stoppen würde. Viele Männer melden sich freiwillig zum Krieg, doch Erich desertiert, gemeinsam mit Trina geht er in die Berge. Wie die Geschichte ausging, dass Hitler den Krieg verlor und der Stausee am Ende, gegen allen Widerstand doch gebaut wird, ist bekannt. Jeder kennt ein Foto des Stausees, aus dem noch der Kirchturm ragt, inzwischen ein beliebtes Fotomotiv und Anziehungspunkt für Touristenmassen, die nicht wissen, welch bewegte und traurige Geschichte dahinter steckt, wie viele Familien entzweit wurden, wie viele Menschen ihr Leben lassen mussten.

Fesselnd und sehr persönlich wird die Geschichte aus Sicht Trinas erzählt, erst noch eine junge, unbeschwerte Frau, später noch immer mutig, aber vom Leben gezeichnet. Ihre Familie steht exemplarisch dafür, wie Faschisten und Nazis Familien entzweien, Dorfgemeinschaften zerstören und aus einem idyllischen Tal eine Gegend voller Zwist und Sorgen machen. Es gibt keine richtigen Entscheidungen, man kann nur nach den eigenen Moralvorstellungen leben, was richtig und falsch ist wird von anderen entschieden. Oder von der Geschichte. Die kritischen Geister stehen ziemlich alleine da.

Ich finde es großartig, wie Bolzano in seinen Romanen vergessenen Schicksalen und Nebenschauplätzen der großen europäischen Geschichte ein Denkmal setzt und sie vor dem völligen Vergessen bewahrt.

Gleichzeitig versteht er es wunderbar, authentische und vielschichtige, sehr menschliche Charaktere zu erschaffen, beim Lesen werden sie lebendig und man ist beinahe überzeugt, dass es sie wirklich gegeben hat.

Kritisch, faszinierend, großartig geschrieben. Marco Balzano ist ein Autor, der emotional erzählen kann und dabei nie die Fakten aus den Augen verliert. Große Erzählkunst!