Südtiroler Geschichte erlebbar gemacht

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„Du weißt nichts über mich, und doch weißt du viel, weil du ja meine Tochter bist.“ Mit diesem ersten Satz leitet Marco Balzano seinen Roman ein und zeigt gleich zu Beginn auf, um was es sich handelt: um einen langen Brief an die Tochter der Ich-Erzählerin Trina.

Trina wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in Graun geboren, einem kleinen Südtiroler Bauerndorf im Dreiländereck I/CH/A, in dem Deutsch gesprochen wird. Mit Mussolini beginnt die Italianisierung der Region. Immer mehr Zuwanderer kommen, Deutsch als Sprache wird geächtet, Lehrer ausgetauscht. „Mussolini ließ Straßen, Bäche und Berge umtaufen… Sogar die Toten haben sie gestört, diese Mörder, indem sie die Inschriften auf den Grabsteinen änderten.“ (S. 22) Mit der Sprache verliert ein Mensch seine Identität. Was das mit ihm macht, davon handelt unter anderem dieser Roman.

Trina schafft es gerade noch, ihre Ausbildung als (deutsche) Lehrerin abzuschließen, bekommt aber keine Stelle. Sie büffelt Italienisch – eine Fähigkeit, die ihr zwar keine Arbeit beschert, aber häufig im Leben nützlich sein wird. Die Deutschen haben es schwer in Südtirol. Sie werden unterdrückt und nicht geachtet.

Trina heiratet den Bauernsohn Erich, sie gründen eine Familie. Trina hat ihre Schwierigkeiten mit der Mutterrolle, wird aber liebevoll von ihrer eigenen Mutter unterstützt. Die Kinder wachsen auf und entwickeln eigene Vorstellungen vom Leben. Parallel dazu erhebt sich der Nationalsozialismus in Deutschland. Hitler versucht, die frustrierten Südtiroler auf seine Seite zu ziehen: „Auf Adolf Hitler zu hoffen, war die einzige Rebellion. Und diese Rebellion zeigte sich in den Wirtshäusern, an den geheimen Treffpunkten, wo die Männer zusammenkamen, um deutsche Zeitungen zu lesen, verrauchte aber, wenn sie allein in den Ställen die Kühe molken und zur Tränke führten.“ (S. 71) In diesem Spannungsfeld zerbrechen Familien, auch die von Trina.

Über die politischen Umwälzungen hinaus drohen den Menschen weitere Gefahren: Die italienische Regierung plant zusammen mit einer großen Schweizer Firma den Bau eines mächtigen Staudamms. Von Beginn an ist die Flutung der Orte Reschen und Graun geplant. Über die Jahre gibt es Verzögerungen, Kämpfe und Widerstand, jedoch zeigt bereits das Buchcover mit einem Bild des Kirchturms inmitten des Reschensees, wie die Sache ausgegangen ist. Heute ist dieser Turm eine Touristenattraktion, man kann ihn aber auch als Mahnmal verstehen.

Der Autor versteht es meisterhaft, die historischen Ereignisse und Probleme dieser Region mit dem Einzelschicksal von Trina und ihrer Familie zu verbinden. Dadurch macht er die vergangenen belegten Tatsachen fühlbar, man bekommt ein Empfinden dafür, was es heißt, in schweren Zeiten einer unerwünschten Minderheit anzugehören und einen großen Krieg zu überleben. Immer wieder stellt sich für die Protagonisten die Frage, ob sie die Heimat nicht verlassen sollten. Für Erich ist das keine Option: „Weil ich hier geboren bin, Trina. Mein Vater und meine Mutter sind hier geboren, du bist hier geboren, unsere Kinder sind hier geboren. Wenn wir weggehen, haben die anderen gewonnen.“ (S.64)

Der Roman fasziniert mich sehr. Balzano schreibt in klaren, einfachen Sätzen, er berichtet genau so, wie jemand eine Geschichte erzählen würde. Der Text ist immer wieder mit bemerkenswerten Aussagen/Weisheiten gespickt, die Wahrheit und Tiefgründigkeit beinhalten, etwa: „Es wird schon seinen Grund haben, wenn Gott uns die Augen vorne eingesetzt hat! Das ist die Richtung, in die wir schauen müssen, sonst hätten wir die Augen an der Seite wie die Fische!“ (S. 95)

Die spannende Handlung wird mit sehr viel Zwischenmenschlichem, Politischem, Familiärem begleitet – ohne je ins Triviale oder Kitschige abzugleiten. Gleichzeitig bekommt man Nachhilfe in Geschichte, man ist überrascht, wie eine ganze Region zum Spielball einzelner nationaler Interessen werden konnte. Das macht Lust, weitere Fakten über die Region herauszufinden und zu recherchieren.

Balzano ist eine intelligente Familiengeschichte über mehrere Generationen gelungen. Er schreibt über eine Region, über die Menschen, über ihre Verluste und ihr Leben. Er hat interessante Figuren geschaffen und bleibt bis zum Ende hochgradig glaubwürdig. Besonders Trina entwickelt sich über die Jahrzehnte, sie wird von den Umständen geschliffen. Der Roman wird mit Sicherheit breiten Leserschichten gefallen. Er hat alles, was ein gutes Buch braucht. Große Leseempfehlung!