Verloren im Liebeslabyrinth

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zopfmadame Avatar

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Zugegeben, als ich beim Öffnen des Buches gesehen habe, dass die Erstausgabe bereits 1990 erschienen ist, war ich skeptisch, ob der Inhalt überhaupt noch zeitgemäß ist. Meine Befürchtung war, dass es sich um einen Ratgeber handelt, der mit veralteten Klischeebildern von "typisch männlich" und "typisch weiblich" arbeitet. Beim Lesen wurde mir recht schnell klar, dass dies absolut nicht der Fall ist und "Ich lieb' dich nicht, wenn du mich liebst" auch heute noch (über 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung) kein bisschen an Relevanz eingebüßt hat.

Cassandra Phillips und Dean C. Delis erläutern in ihrem Beziehungsratgeber das Phänomen der "Paradoxen Leidenschaft". Das bedeutet, dass in unausgeglichenen Beziehungen ein Partner immer mehr liebt, als der andere - es gibt also einen Überlegenen und einen Unterlegenen (wer welche Rolle einnimmt, hat wenig mit dem Geschlecht zu tun). Der Unterlegene sehnt sich nach Nähe, während der Überlegene sich in der Beziehung eingeengt fühlt und auf Distanz geht - dadurch wird der Wunsch nach Nähe des Unterlegenen noch stärker. Es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen den Partnern, welches sich schnell in einen Teufelskreis entwickeln kann.

Der erste Teil des Buches befasst sich damit, welche Rahmenbedingungen für unausgeglichene Beziehungen gegeben sein müssen, im zweiten Teil geht es ausführlich darum, wie man eine gleichberechtigte Partnerschaft aufbauen kann. Die theoretischen Ausführungen werden mit Fallbeispielen aus Delis Praxis untermauert, welche das Geschriebene nochmal verdeutlichen.

Die Fallbeispiele ziehen sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch. Obwohl es sich bei "Ich lieb' dich nicht, wenn du mich liebst" um ein Sachbuch beziehungsweise um einen Ratgeber handelt, ist doch ein Spannungsbogen vorhanden und die Überleitungen passen zusammen wie Puzzlestücke. Am Ende des Buches hat man ein abgerundetes Bild ohne lose Enden vor sich; eine Landkarte heraus aus dem Liebeslabyrinth, in welchem sich viele Paare verloren haben.

Obwohl das behandelte Thema ein äußerst heikles ist, ist das Autorenduo in keiner Art und Weise verurteilend oder kritisierend. Man fühlt sich in seiner Beziehung - und in seiner Wesensart - gesehen, ohne bewertet zu werden. Beim Lesen habe ich mich in einigen Beschreibungen selbst wiederfinden können, teilweise wurden mir Dinge klar, welche ich mir vorher lange nicht eingestehen wollte. Das mag unangenehm klingen, doch genau hier setzen Delis und Phillips an, nehmen die Lesenden an der Hand und zeigen mögliche Problemlösestrategien und Lösungsansätze auf. An festgefahrenen Beziehungsmustern zu rütteln kann furchteinflößend sein, doch dieser Ratgeber schafft es, einem die Angst vor Veränderung zu nehmen und aufzuzeigen, was Gutes daraus entstehen kann.

"Ich lieb' dich nicht, wenn du mich liebst" ist nicht nur interessant und relevant, wenn man bereits in einer Beziehungskrise steckt, es kann definitiv auch "präventiv" gelesen werden. Der Untertitel heißt zwar "Nähe und Distanz in Liebesbeziehungen", doch beim Lesen des Buches konnte ich auch einige hilfreiche Ansätze für andere Arten von zwischenmenschlichen Beziehungen finden. Ich traue mich fast zu behaupten, dass unsere Gesellschaft eine liebevollere wäre, wenn jeder Mensch dieses Buch einmal gelesen hätte.