Fliegen lernen

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern
bobbi Avatar

Von

Mit vielen atmosphärischen Details und einer düster-bewegenden Geschichte taucht der Autor James Hynes in seinem neuen Roman „Ich, Sperling“ tief ein in ein packendes Drama um einen waisen Sklavenjungen im antiken Römischen Reich im 4. Jahrhundert nach Christus.

Der namenlose Junge, der sich selbst Jakob nennt und nicht weiß, wo er eigentlich herkommt, wurde vom Schiff aus fälschlicherweise als Sklavin nach Carthago Nova verkauft – dort wächst er unter brutalen Umständen in der Taverne Helicon zwischen den sogenannten Wölfinnen auf, die als Prostituierte im Obergeschoss arbeiten. Alle haben Angst vor dem grausamen Tyrannen und Zuhälter Audo, der quält, vergewaltigt und schikaniert. Zuflucht und subtile Geborgenheit findet Jakob bei Euterpe, die ihm die Welt philosophisch angehaucht erklärt. Durch ihre Schilderungen erfindet sich Jakob das Alter Ego Sperling, denn irgendwann möchte er von diesem grausamen Ort fliehen, indem er seine Flügel ausbreitet und davonfliegt. Diese ruhevolle Fantasie im Kopf lässt ihn viele schlimme Dinge besser durchstehen.

Bis dahin erledigt er zwischen Fischköpfen, Kakerlaken und Mäusekot Küchenarbeiten und darf sogar nach draußen, um kleine Besorgungen zu machen – dort beobachtet er die Umwelt, Geschehnisse und die Menschen ganz genau und bringt sie durch seine eindrücklichen Schilderungen aus Kinderaugen auch der Leserschaft sehr nahe. Ab seinem zehnten Lebensjahr wird Jakob selbst zur Prostitution gezwungen, was er nur durch geistige Dissoziation zum Sperling und den Zusammenhalt zwischen der Wolfsfamilie übersteht. Als das Christentum immer mehr Einfluss übernimmt, geraten die Geschehnisse nochmal turbulent durcheinander und im Laufe seines Coming-of-Age und Leidenswegs nimmt Jakob verschiedene (aufgezwungene) Identitäten an.

James Hynes hat einen eindringlichen, gewaltvollen und faszinierenden historischen Roman geschaffen, der trotz einigen Längen einen unheimlichen Sog auswirkt und mit den präzisen, gut recherchierten Details aus dieser Epoche überzeugt. Empathisch und sehr derb-direkt taucht er tief ein in die Gefühls- und Erlebniswelt des Jungen, die tief berühren und ein Panoptikum des Römischen Reichs erschaffen. Der klug beobachtende Ich-Erzähler Jakob spricht während der Geschichte des Öfteren als alter Mann mit seinen Leser*innen, reflektiert über unstete Erinnerungen, aber auch darüber, dass das Erzählte eigentlich kein gutes Ende nehmen kann – das erzeugt ein düsteres Hintergrundrauschen sowie Authentizität.

Ein fesselnder, kraftvoller und aufrüttelnder Roman mit starken, realitätsnahen Charakteren und Bildern, der über knapp 600 Seiten keine verstörende Grausamkeit und seelische Traumata auf Jakobs Lebensweg ausspart, aber auch hoffnungsvoll und teils humorvoll aufzeigt, wie sich Widrigkeiten durch Zusammenhalt aushalten lassen können – selbst in der Brutalität des damaligen Römischen Reiches.