Sehr viel Atmosphäre

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Inhalt
Im spanischen Carthago Nova wächst im 4. Jahrhundert n. Chr. ein namenloser Junge in der Küche eines Bordells heran. Woher er stammt, wird er nie erfahren. Eine der Wölfinnen, Euterpe, nimmt sich seiner an und wird ihm zur Ziehmutter. Sie nennt ihn Sperling und erklärt ihm die Welt. Als Sklaven haben sie kein leichtes Los. Anfangs zieht man Pusus (Junge) zu einfachen Haushaltsarbeiten heran. Doch eines Tages wird er, wie alle wissen, ins Obergeschoss ziehen, dorthin, wo die Freier ihr Recht verlangen. Pusus wird sein Schicksal annehmen – oder daran zerbrechen.


Meinung
James Hynes ist ein absoluter Page Turner aus der Feder geflossen, der sprachlich dicht und eloquent daherkommt und zudem hervorragend recherchiert wurde. Immer wieder blitzen philosophische Ideen und Gedanken hervor, die das Geschehen bereichern und Seite um Seite vorbeifliegen lassen. Allein das Ende ist zu bemängeln, es kommt reichlich zackig und wirkt so offen, dass es nicht unwahrscheinlich wäre, wenn es demnächst eine Fortsetzung gäbe.
Zunächst beginnt die Geschichte mit einem alten Mann in Britannien, der seine Lebensgeschichte niederschreibt. Es ist Pusus, den alle nur „Junge“ nennen, obwohl er als Kleinkind als vermeintliches Mädchen gekauft wurde. Man setzt ihn in die Küche, wo die Köchin Focaria ihr Reich hat. Zwar ist die rothaarige Frau auch eine Sklavin, aber eine wertvolle mit ein paar Sonderrechten. Sie und Euterpe lieben sich und stehlen sich von Zeit zu Zeit ein paar wertvolle Augenblicke miteinander. Dass die andere Frau den Jungen so vergöttert, nimmt Focaria ihr und vor allem ihm übel. Die Beziehung ist also von vornherein belastet, was Spannung ins Geschehen bringt.
Es gibt fünf Wölfinnen (Urania, Clio, Thalia), die im Bordell arbeiten, wobei Melpomene erlaubt wurde, sich freizukaufen und nun auf eigene Kosten weiterzuarbeiten. Eine harte, intelligente Frau, die nur eben deswegen all die Jahre überleben konnte. Als Sklavinnen haben die Wölfinnen kein Mitspracherecht. Sie stammen aus ganz verschiedenen Orten der Welt und bringen individuelle Geschichten mit, auch wenn man ihnen nicht gestattet hat, ihre eigenen Namen zu behalten, sondern sie nach den Musen benannt hat. Ihr jeweiliger Umgang mit der Situation ist es, was das Leben dort so anschaulich und lebendig macht.
Pusus erzählt seine Geschichte in der Ich-Form selbst. Sein Verhältnis zu Männern ist von Anfang an zwiespältig. Das, was er von ihnen zu sehen und zu hören bekommt, ist unflätige Sprache und Gewalt. Vor allem der Aufseher im Bordell, Audo, lässt gern seine Aggressionen an ihm und den Frauen aus.
Pusus’ Welt ist zunächst auf die Küche und den kleinen Garten beschränkt. Im Älterwerden erklären ihm die Wölfinnen die Welt, die er nach und nach versucht zu begreifen. Als man ihm aufträgt, Besorgungen außerhalb seiner kleinen Welt zu machen, vergrößert sich seine Gedankenwelt. Er versucht zu begreifen, wieso er auf diese Art leben muss, während es einige wenige gibt, die scheinbar alles haben. Dem Autor gelingt es wunderbar, verschiedene Berufe, wie Bäcker oder Tuchwalker anschaulich darzustellen. Auch die Christen nehmen einen nicht unerheblichen Teil der römischen Stadt ein. Es gibt nur noch dieses eine Bordell, weil sein Besitzer mit dem Bischof verwandt ist, der wiederum die Einnahmen benötigt, um seine Bauwerke errichten lassen zu können. Melpomene wird Pusus später treffend sagen, dass sie und die Frauen all den Reichtum der Familien und der Stadt erwirtschaftet haben.
Das Geschehen spielt sich fast ausschließlich in dem Bordell ab. Es vergehen einige Jahre, in denen scheinbar nicht viel geschieht. Das ist keine actionlastige Geschichte, die auf Feuerwerk und Explosionen setzt. Es wird das Leben in einer antiken römischen Stadt aus der Sicht eines kindlichen Sklaven gezeigt, der versucht, alles um ihn herum zu begreifen. Ein Zeigefinger erhebt sich dabei nicht.
Schließlich scheint es unausweichlich, das Pusus ins Obergeschoss ziehen muss. Seine ohnehin schon kurze und harte Kindheit ist mit einem Schlag beendet. Hynes nimmt kein Blatt vor den Mund, verzichtet jedoch auf allzu genau beschriebene Vorgänge. Pusus klinkt sich geistig die meiste Zeit ohnehin aus, um mit allem klarzukommen. Danach geht die Handlung erst einmal etwas gemächlich weiter, bis sie sich dann förmlich zu überschlagen scheint. Ein Weglegen des Buches ist kaum noch möglich. Als das eigentliche Ende beginnt, wird schnell klar, dass die verbleibenden Seiten nicht ausreichen können, um es rund abzuschließen. Ich vermute, dass es eine Fortsetzung geben könnte, die auch dringend angeraten ist. Pusus ist noch immer ein Kind, das langsam in die Pubertät kommt. Bis zum alten Mann, der seine Geschichte aufschreibt, fehlen etliche Jahre. Es wäre schade, wenn ein so gewandter Autor wie Hynes das vor ihm liegende Potential nicht nutzen würde.
„Ich, Sperling“ erzählt eine mitreißende Story, die ohne große Aufreger daherkommt und mit Alltäglichkeiten des Antiken Roms zu überzeugen weiß.