Ein herausforderndes, aber schönes Buch

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
singstar72 Avatar

Von

Meine größte Kritik gleich vorneweg. Was hat sich der deutsche Verlag nur gedacht, Titel und Cover dermaßen zu verändern? Das trifft den Inhalt und die Bedeutung des Buches überhaupt nicht! Knaur macht aus diesem komplexen Buch auf den ersten Blick eine rein romantische Liebesgeschichte, was es aber nicht ist.

Erstens mal trägt die Heldin Loveday keinen Blümchenrock und keinen Hut! Sie ist eher eine "Gothic"-Braut mit schwarzen Haaren und Tattoos. Und den deutschen Titel finde ich furchtbar. Der englische Originaltitel ist nüchtern, und dem Inhalt angemessen. "Lost for Words" - das ist schlicht der Name des Buchladens, in dem die Heldin arbeitet. Und er ist so schön doppeldeutig. Denn einerseits ist die Heldin "den Worten verfallen", da sie Bücher liebt; andererseits aber "fehlen ihr die Worte", um über sich und ihre dramatische Kindheit zu sprechen.

Ich möchte mich nicht zu sehr auf den Plot und die Handlung beziehen, da ein Aspekt des Buches gerade darin besteht, dass der Leser Schritt für Schritt durch Lovedays Augen ihre dramatische und tragische Geschichte entdeckt. Man weiß zu keinem Zeitpunkt mehr als die Heldin, und begibt sich mit ihr auf eine Reise in die Vergangenheit. Nur soviel: sie hat in ihrer Kindheit ein ziemliches Trauma erlitten, dass sie nun mithilfe der Literatur und mithilfe von Nathan Avebury aufzudecken versucht - auch wenn sie sich zunächst dagegen sträubt.

Das Buch strotzt für mich nur so vor wundervollen und hintersinnigen Ideen. Es wird aus der Perspektive der Heldin Loveday erzählt. Sie arbeitet bei "Archie" in York in einem Antiquariat. Oder einem trödeligen, liebevollen Buchladen, je nachdem wie man es sieht. Der Laden und sein Besitzer, und erst recht seine Kunden, sind mit viel Detailfreude und Liebe beschrieben.

Loveday hat für jede Lebenslage und jede Tücke ein literarisches Zitat oder eine durch Bücher geprägte Ansicht parat, was mich ungemein unterhalten hat! So beschreibt sie zum Beispiel gewisse zwecklose Diskussionen als "langweilig wie Jonathan Swift". Andererseits fand ich dies aber auch traurig, da sie kaum wirkliche Lebenserfahrung und keine Freunde hat. Sie kennt nur Bücher!

Wir ahnen die ganze Zeit, dass mit ihr etwas nicht stimmt. Doch das kommt nur Schritt für Schritt heraus. Sie wird zu einem Poetry-Slam eingeladen, findet einen Freund, fängt selbst wieder an zu dichten. Und dann tauchen auch noch seltsame Bücher aus ihrer Vergangenheit im Laden auf... Im letzten Drittel gibt es dann noch einen richtigen Showdown und eine äußerst dramatische Wende, durch die Loveday endgültig gezwungen wird, sich ihrer Vergangenheit zu stellen.

Aus psychologischer Sicht könnte man sicher so manchen Kritikpunkt an diesem Buch finden. Aber dies soll ja kein Sachbuch über dyfunktionale Familien oder Erfahrungen mit Gewalt sein, sondern ein Roman. Und als solcher ist er sehr gelungen! Ich habe mit Loveday gelitten, wurde durch ihren schnoddrigen, um Haltung ringenden Ton bestens unterhalten. Und ich war fasziniert von ihrem Weitblick als "professioneller Leserin". Darin habe ich mich wiedergefunden.

Vielleicht hätte ich nur die allerletzten Seiten gekürzt, die ein wenig zu sehr "Happy End" werden. Aber der Gesamteindruck bleibt immer noch rund. Ich würde dieses Buch jederzeit weiterempfehlen. Und ich würde jedem Leser raten, sich nicht von der süßlichen Aufmachung der deutschen Ausgabe in die Irre führen zu lassen.