Gesteuerte Ambivalenz

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singstar72 Avatar

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Ich verfolge das literarische Schaffen von Jo Nesbo schon seit längerer Zeit. Seine Reihe um Kommissar Harry Hole habe ich nahezu vollständig verschlungen. Aber dieser Roman war das erste „Stand-Alone-Werk“, das ich von ihm gelesen habe. Sein literarisches Können ist dabei weiterhin unbestritten – dennoch fiel mir die emotionale Identifizierung mit dem „Königreich“ schwer, und ich mag nicht die höchste Punktzahl vergeben.

Zunächst einmal ist es nicht leicht einzuordnen – was an sich kein negatives Kriterium sein muss. Doch hier hat es bei mir leichtes Unbehagen erzeugt. Es ist ein Mittelding zwischen verschiedenen Genres – Drama, Krimi, Thriller, Familiengeschichte. Und nichts davon ganz.

Zweitens haben wir es hier mit einem wahren Paradebeispiel von „unzuverlässigem Erzähler“ zu tun, was dem Leser bei der Orientierung nicht gerade weiter hilft. Es wird aus Roy Opgards Perspektive erzählt. Roy ist der ältere von zwei Brüdern, die in einem einsamen norwegischen Ort in einer dysfunktionalen Familie aufwachsen. Erst als beide erwachsen sind, und Carl in den Ort zurückkehrt, eskalieren die Spannungen aus der Kindheit, und beide bleiben mit den Scherben ihres Lebens zurück.

Ich habe mich gefühlt wie bei einem Verhör. Roy hat mir als Leser immer nur gerade so viel erzählt, wie es von Kapitel zu Kapitel nötig war. Die Erzählung wand sich dahin wie ein Tanz, und hat sich in Spiralen auf das eigentliche Geschehen zubewegt. Zudem wurden noch fleißig Cliffhanger und Vorausdeutungen benutzt – ab irgendeinem Punkt war mir das manchmal „too much“.

Auch manches erzählerische Element fand ich im Rückblick überladen. Eine krause und gewalttätige Familienhistorie, dazu noch undurchsichtige Finanzgeschichten des jüngeren Bruders Carl, der plötzlich in seinem Heimatdorf ein Wellness-Hotel bauen will. Und obendrauf, als Sahnehäubchen, noch eine Dreiecksbeziehung. Und alles flankiert von Roys latenter Gewaltbereitschaft. Also ich weiß nicht…

Ich hatte das Gefühl, der Autor wollte dem Leser ganz gezielt eine Identifikation mit den Figuren unmöglich machen. Nun, das ist ihm vollauf gelungen! Was mir gut gefiel, war die Charakterisierung des einsamen Landlebens, der Mentalität, der Dorfschlägereien, der Gerüchteküche, der Liebschaften. Auch die Dialoge und jede Charakterzeichnung für sich fand ich überzeugend. Nur alles auf einmal genommen, war mir zuviel. Zudem gibt es im gesamten Buch keine einzige positive Frauenfigur. Dafür ist Jo Nesbo nun auch nicht gerade bekannt. Aber sogar bei Harry Hole konnte man noch irgendwo mitfühlen…

Ich werde in Zukunft bei Harry Hole bleiben. Einzelwerke von Jo Nesbo, wie dieses hier, würde ich nur mit Vorsicht und an wirkliche Fans weiter empfehlen.