Ungewöhnlicher Krimi, voller doppeldeutiger Abgründe

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la calavera catrina Avatar

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Jo Nesbø erzählt in „Ihr Königreich“ die Geschichte von zwei Brüdern, die auf sich selbst gestellt sind. Roy, der pragmatische Eigenbrötler: der Gebirgsvogel ohne Namen, und Carl, der charismatische jüngere Bruder. Neben einem geplanten Hotelprojekt und einer damit verbunden Kommanditgesellschaft wird Missbrauch, Untreue, Verrat, Gewalt, Alkohol und Mord thematisiert.

Erzählt wird die Geschichte aus Roys Sichtweise. Der Schwerpunkt liegt weniger auf den polizeilichen Ermittlungen der Verbrechen, sondern konzentriert sich viel mehr auf die familiäre Tragödie dahinter - ungewöhnlich für einen Kriminalroman, jedoch nicht weniger unterhaltsam. Der ermittelnde Polizist im Ort ist hartnäckig und misstrauisch, bleibt aber nur eine spannungserhöhende Randfigur. Der Leser jedoch verweilt nur bis zu einem gewissen Punkt im Unklaren: Vergangenheit und Gegenwart laufen zusammen, das Drama nimmt seinen Lauf - raffiniert, tief gehend und vielschichtig aufgebaut. Schon fast spielerisch leichtfüßig beschreibt Jo Nesbø die menschlichen Abgründe und ineinandergreifenden Motive seiner Protagonisten, entfacht Verständnis - ja, beinahe Sympathie - für das Unaufhaltsame… wenn man Dinge tut, die man eigentlich gar nicht will, aber nicht aus eigener Kraft stoppen kann. Das Buch ist literarisch anspruchsvoll, lässt sich aber flüssig lesen, ist wie gewohnt hervorragend recherchiert und gekrönt mit wortgewandten Dialogen und Wissenswertem. Die fein gezeichneten Hauptfiguren gefielen mir besonders: konservierter Kontext voller Gleichmut und Zerbrechlichkeit. Ich litt jede Sekunde mit Roy, gefangen im selben moralischen Dilemma zwischen Gut und Böse. Es war weniger der knifflige Reiz der Auflösung, viel mehr das einstürzende Kartenhaus, und die daraus resultierende Charakterentwicklung: wenn getan wird, was getan werden muss.
Die ersten 200 Seiten sind voller subtiler Brotkrummen, die Düsteres erahnen lassen - Jo Nesbø nimmt sich Zeit für den Spannungsaufbau. Nach und nach entblößt er, die Naturgewalten in der schroffen norwegischen Kleinstadt, und entwickelt eine Sogwirkung, die über hunderte Seiten fesselt, bis dieser zerstörerisch in einem dramatischen Showdown endet, der unausweichlich schien. Ein Buch für alle, die Lust auf einen ungewöhnlichen Krimi haben, der spannend geschrieben ist und in einem fast schon zynischem Ende gipfelt. Kein Muss, aber ein willkommener Genuss - deshalb 4 von 5 Sternen.