Fenster zur Arktis

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„Im Eis“ ist Melanie McGraths erster Roman, nachdem sie bereits eine Reihe von Sach- bzw. Reisebüchern veröffentlicht hat. Darunter auch „The Long Exile: A true story of deception and survival amongst the Inuit of the Canadian Arctic”. Ihr Interesse für das Volk der Inuit besteht also schon länger, und ihre Recherche für das Sachbuch kommt nun diesem Kriminalroman in arktischem Setting zugute. Denn dass die Autorin bestens über ihr Thema Bescheid weiß, wird von Anfang an klar und macht dieses Buch so besonders.

 

Edie Kiglatuk, die Protagonistin dieses Kriminalromans, ist eine der originellsten und authentischsten Heldinnen, die mir bislang untergekommen ist. Ihren Charakter entwickelt die Autorin glaubwürdig aus dem Spannungsfeld zwischen indigener und weißer Kultur mit all ihren Konflikten und Problemen. Dabei ist ihre Sprache bildhaft, liest sich flüssig und schafft Bilder im Kopf, die man nicht so schnell vergisst. Aber nicht nur Edie mit ihrer hartnäckigen Widerständigkeit wächst einem im Lauf der Geschichte ans Herz: das Personal des Buches fand ich durchgängig gelungen. Da ist Derek Palliser, der Polizist, der seiner Traumfrau nachtrauert und sich lieber mit der Erforschung von Lemmingen befasst als mit diesem unbequemen, keineswegs eindeutigen Todesfall. Oder Martie, Edies Tante, suchtkrank und couragierte Fliegerin. Willa, Stiefsohn von Edie, Kiffer und zu jung, um schon so frustriert zu sein. Die Südler, die allesamt nicht gut wegkommen in Edies und Dereks Augen, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird.

 

Die Geschichte entwickelt sich langsam und ist in den arktischen Alltag eingebettet. Wir erfahren viele interessante Details, zum Beispiel darüber, wie vergorener Walrossdarm, Blutsuppe oder Walhaut schmecken. Darüber, dass die Arktisbewohner Temperaturen um die -20 Grad als mild empfinden und solche über 10 Grad als unerträglich warm. Dass man Schlittenhunde nicht direkt vor einer Tour füttert, denn satte Hunde laufen nicht. Und wir erfahren viel über das Eis: seine Eigenschaften, seine Gefahren, seine Faszination, denn, wie Edie sagt, Schnee ist kein Thema in der Hocharktis, die von Alaska soweit nördlich liegt wie Alaska von Kalifornien. Solche Perspektiven tut uns die Autorin immer wieder auf, und während wir Edies Kampf um die Wahrheit und gegen ihren Suchtdämon verfolgen, tauchen wir immer tiefer ein in diese faszinierende Welt. Edie gewinnt Erkenntnisse, die niemand wahrhaben will, ihre Recherche führt sie auf den Spuren ihres Großvaters bis nach Grönland, und was sie am Ende herausfindet, ist größer und schlimmer, als sie und die Leserin erwartet hat, dabei gut aufgebaut und schlüssig und mit dem nötigen Maß an Überraschung bei der Auflösung. Melanie McGrath bringt es nicht nur fertig, uns eine völlig neue, fremde Welt nahezubringen, sondern dabei auch noch ein paar der aktuellen Themen unseres Planeten einzubinden.

 

Diesen Roman habe ich mit wachsendem Vergnügen viel zu schnell ausgelesen. Für alle, die neugierig sind auf fremde Kulturen und neue Blickwinkel: Ganz klare Leseempfehlung!