Gesellschaftlich wichtig, emotional stark, mit ein paar blinden Flecken
Anne Sauers Debüt Im Leben nebenan hat mich in vielerlei Hinsicht beeindruckt, vor allem, wie ehrlich und sensibel Themen wie unerfüllter Kinderwunsch, postpartale Depression und der leise Zweifel an eigenen Lebensentscheidungen verhandelt werden. Diese Fragen - was wäre, wenn alles anders gekommen wäre? - sind emotional enorm aufgeladen, und genau diese Zwischentöne haben mich beim Lesen besonders berührt.
Die Struktur des Romans ist klar und durchdacht, der Wechsel zwischen den beiden Parallelleben funktioniert gut, und das Hörbuch, wunderbar gesprochen von Chantal Busse, hat mir den Einstieg erleichtert und mir viele berührende Momente beschert.
Trotzdem blieb bei mir auch einiges offen. Die beiden Hauptfiguren, oder besser gesagt: zwei Versionen ein und derselben Frau, fühlten sich über weite Strecken eher blass an. Mir fehlten Ecken, Interessen, Konflikte außerhalb ihrer jeweiligen Partnerschaften. Ich hatte den Eindruck, dass sie mehr als Identifikationsflächen gedacht waren, was sicher eine bewusste Entscheidung der Autorin war, mich aber emotional ein wenig auf Distanz gehalten hat.
Auch bei der Behandlung feministischer Themen war ich zwiegespalten. Die Aspekte, die angesprochen wurden, von Sorge um das Kind über finanzielle Unsicherheiten bis hin zu strukturellen Benachteiligungen, sind zweifellos wichtig. Doch vieles blieb mir zu oberflächlich oder wirkte wie „Pflichtstationen“. Ich hätte mir an einigen Stellen mehr Tiefe, Reibung und vor allem eine stärkere Auseinandersetzung mit Klassenfragen gewünscht.
Was bleibt, ist ein Roman, der gesellschaftlich relevante Fragen auf kluge Weise in Szene setzt, aber bei der Figurenzeichnung und thematischen Tiefe nicht durchgehend überzeugt. Trotzdem würde ich das Buch weiterempfehlen, vor allem, weil es wichtig ist, über solche Themen zu sprechen. Es trifft einen Nerv unserer Zeit, auch wenn nicht jeder Ton perfekt sitzt.