Selten habe ich so mitgefühlt

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Auf der anderen Seite ist das Gras immer viel grüner. Denkt die mit dem unerfüllten Kinderwunsch, denkt die mit der Wochenbett-Depression. Aber Kinderkriegen ist eine finale Entscheidung, keine Testphase, kein "Nur wenn ich Lust habe"-Abomodell.
“Man hat entweder Kinder, oder man hat keine. Niemand macht beide Erfahrungen.” schreibt Verena Kessler ebenso wahr wie absolutistisch in ihrem Roman "Eva".
Doch Anne Sauer @fuxbooks bietet ihrer Protagonistin Antonia/Toni diese Lösung und lässt sie parallel zwei Leben leben: eines, in dem fruchtbare Zeitfenster, S€x nach Stundenplan und eine fast schon xx Partnerschaft. Und eines mit einem anderen Mann, in einer anderen Stadt, mit Neugeborenem.

Zwei Leben, zwei Versionen derselben Frau, getrennt nur durch eine einzige Entscheidung. "Im Leben nebenan" ist ein Roman, der die große Was-wäre-wenn-Frage ganz intim und zugleich universell stellt: Was wäre, wenn ich an einem entscheidenden Punkt meines Lebens anders abgebogen wäre?

Wir begleiten Toni, die mit ihrem Partner Jakob in der Stadt lebt und sich verzweifelt ein Kind wünscht – und wir begleiten Antonia, dieselbe Frau mit einem anderen Leben, in einem kleinen Dorf, als Mutter eines fünf Wochen alten Babys, überfordert, isoliert, erschöpft. Beide erleben auf ihre Weise Schmerz, Verlust und Identitätskrisen.

Mich hat dieser Roman tief berührt – weil ich mich in vielen Gedanken, in vielen Gefühlen wiedergefunden habe. Die permanente Frage nach dem richtigen Lebensentwurf, die Unsichtbarkeit der inneren Kämpfe, das Ringen darum, als Frau irgendwie zu genügen – all das schreibt Anne Sauer so nah, so eindrücklich, dass ich stellenweise nur abschnittweise lesen konnte. Zu viel hat da mitgeschwungen, zu viel angestoßen. Auch ich war mal Toni, war Antonia, und ich denke, vielen von uns geht es so.
Was mir sehr gefallen hat: Es geht hier nicht um die Gegenüberstellung von „Kind oder kein Kind“ im plakativen Sinne. Es geht um den Druck, sich entscheiden zu müssen. Und um die Erkenntnis, dass es keine perfekte Entscheidung gibt – nur unterschiedliche Wege mit unterschiedlichen Herausforderungen, die aber alle unsere ganze Person fordern.

Auch sprachlich ist der Roman stark. Die Sätze sind klar, die Dialoge lebensnah, die Atmosphäre eindringlich. Die Szenen rund ums Wochenbett, das Scheitern am eigenen Idealbild, aber auch die vergebliche Hoffnung Monat für Monat – das alles ist so präzise und realistisch beschrieben, dass es mir wirklich weh getan hat. Gemeinsam mit Toni starre ich auf Blutklumpen in der Toilette und den immer, immer, immer negativen Schwangerschaftstest, und es zerbricht in mir.
Gemeinsam mit Antonia drehe ich die immer gleichen "Sch, Sch, Sch, ganz ruhig"-Runden im Wohnzimmer, tigere auf und ab, bekomme keine Luft mehr und fühle mich eingesperrt.

Was mir persönlich nicht ganz gereicht hat, war das Ende. Es blieb für mich zu vage, die Figuren schienen mir dort etwas entrückt – als hätte ich sie über die vielen Seiten besser gekannt als im Moment ihres Abschieds. Trotzdem bleibt Im Leben nebenan ein wichtiges, mutiges Debüt, das viel anschneidet, was in unserer Gesellschaft noch immer zu wenig Raum bekommt.