Mehr Elend als Glanz der 20er Jahre

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bücherfreund54 Avatar

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Das Titelbild des Umschlags will nicht recht zum thematischen Schwerpunkt des Buchs passen. Es zeigt ein junges Paar in Ausgehkleidung beim Tanz. Er trägt Monokel, sie ein im Rücken tief ausgeschnittenes Kleid. Das Titelbild erinnert so an das Bild, das man sich von den „goldenen Zwanziger“ des vorigen Jahrhunderts macht: Menschen auf der Suche nach einer neuen Lebensform, die insbesondere Freiheit von den bürgerlichen Zwängen verspricht. Tatsächlich spielt dieser Aspekt in der Darstellung des Jahres 1923 von Christian Bommarius aber eine untergeordnete Rolle.
Ihr Schwerpunkt ist vielmehr die Darstellung der Ereignisse, die letztlich in die Katastrophe der Machtübernahme durch die Nazis 1933 münden: die Besetzung des Ruhrgebiets durch die Franzosen, die Hyperinflation, der Kampf der Kommunisten und Nazis gegen die ungeliebte Republik, Arbeitslosigkeit, Streiks, Judenhass. Das Jahr 1923 ist vorzüglich geeignet, wie in einem Brennglas diese Voraussetzungen der Machtübernahme deutlich zu machen.
Brommarius entwirft ein Mosaik des Jahres 1923. Die einzelnen Steine des Mosaiks sind eine Vielzahl meist kurzer Erzählungen vor allem über Personen des Zeitgeschehens, aber auch über politische Ereignisse. Aufgabe des Lesers ist es, die kleinen Steinchen zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Und diese Aufgabe macht ihm Brommarius nicht immer leicht. Viele dieser Erzählungen sind so voraussetzungsreich, dass sie in der Kürze der Darstellung ohne das entsprechende Hintergrundwissen kaum nachvollziehbar sind. Beispiel: Der kläglich gescheitertere Putschversuch von Hitler in München im November wird auf zwei Seiten abgehandelt. Oft bleibt dem Leser nichts anderes übrig, als die Hintergründe selbst zu recherchieren.
Dann aber wiederum gibt es Passagen, die auf sehr prägnante Weise die Zeitumstände deutlich machen: „Alles ist in Bewegung, die Preise aber bewegen sich nicht - sie explodieren. Der Zweckverband der Groß-Berliner Bäckermeister gibt bekannt, dass die Preise für Mehl in den vergangenen zehn Tagen um 120 Prozent gestiegen sind. Ein Brot kostet 2200Mark (…) Wie soll man da leben? Man soll ja auch nicht. Die Berliner Polizei teilt mit, acht Berliner hätten sich in den vergangenen Tagen in ihren Wohnungen mit Gasvergiftungen getötet. Der Grund für die Suizide war Angst vor dem Verhungern.“ Dieser Eintrag stammt vom Februar. Im Dezember wird das Brot 399 000 000 000 Mark kosten.
Auch von der Unterhaltungsindustrie berichtet Brommarius, zeigt aber auch hier weniger den Glanz als das Elend. Beeindruckend seine Darstellung der skandalträchtigen Nackttänzerin Anita Berber, die nach exzessivem Alkohol- und Drogenkonsum mit 29 Jahren an Tuberkulose stirbt.
Dankenswerterweise hat das Buch einen ausführlichen Anhang mit Kurzbiografien der in der Darstellung erwähnten Personen, mit Quellenangaben und einem Personenregister. Gerade letzteres zeigt aber noch einmal eine gewisse Schwäche des Buchs: Es werden ca. 300 Personen genannt, da ist es schon nicht leicht, den Überblick zu wahren.
Eine Leseempfehlung für diejenigen, die sich für Geschichte interessieren und über entsprechende Kenntnisse verfügen.