Wahnsinnig gut, wahnsinnig lang

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juma Avatar

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Auf dem Cover des Buches wird der neue Roman von Chris Whitaker mit Patricia Highsmith verglichen. Das ist aus meiner Sicht zu kurz geblickt, ich vergleiche dieses Buch – mein erstes von Whitaker – mit den Romanen von Joël Dicker. Das hat nicht nur mit der Länge des Textes zu tun, sondern auch mit der allumfassenden Beschreibung einer ganzen Community, einer großen Familiengeschichte und einer Gesellschaftsbeschreibung, die ihres Gleichen sucht. Als ich das Hörbuch auswählte, war ich mir nicht bewusst, dass mich mehr als 16 Stunden erwarteten, mich hatte nur der Werbetext angezogen, das hatte ausgereicht für die Auswahl. Nach etwas 8 Stunden empfand ich eine gewisse Übersättigung, die Geschichte hatte gerade eine etwas ruhige Phase erreicht, da schaute ich aufs Display und stellte fest, dass noch nicht einmal die Hälfte des Hörbuches gehört war. Weiterhören oder Abbruch? Ich entschied mich für Weiterhören, es war die richtige Entscheidung. Denn ab der Mitte wurde es erst richtig spannend.
Whitaker beschreibt einen Kriminalfall, der über viele Jahre und für alle Protagonisten unendlich und ein echter Cold Case werden würde. Der Autor schweift gelegentlich vom Hauptpfad des Geschehens ab, aber irgendwie kriegt er immer wieder die Kurve und kommt zurück zu seinen Hauptfiguren: Patch (mit bürgerlichem Namen Joseph) und Saint (das ist ihr bürgerlicher Vorname), die seine lebenslange Freundin sein wird. Und es gibt noch Misty, eine Erbin aus gutem Hause, der von Patch in jungen Jahren das Leben gerettet wird. Er wird mit eine fast einjährigen Dunkelhaft von einem unsichtbaren Verbrecher bestraft. In dieser Zeit taucht Grace auf, die wie ein Phantom sein Leben lang von Patch gesucht wird. Er wurde mit nur einem Auge geboren, seine Mutter, alkohol- und psychisch krank, schneidert ihm Augenklappen. So wird er der Pirat in Monta Clare, dem Ort in Missouri, wo der Hauptteil des Buches angesiedelt ist.
Whitaker beschreibt das Leben der drei Hauptfiguren mit all ihren Verwandten und Familienangehörigen, wir lernen Patch’s Freunde und Gönner ebenso kennen, wie die von Saint oder Misty. Hinzu kommen Mädchen, deren Verschwinden immer wieder die Einwohnerschaft beunruhigen, und für Patch der Anlass sind, immer wieder an neuen und anderen Stellen nach Grace und nach diesen Mädchen zu suchen. Diese Suche währt über 25 Jahre, sie beginnt 1975, als Patch 13, 14 Jahre alt ist und endet um 2001. Eine wahrhaft lange Zeit, in der sich nicht nur die Menschen verändern, sondern auch die Welt.
Whitaker schenkt seinen Lesern (Hörern) nichts, es gibt zum Ende hin einige umwerfende Twists, die mich tatsächlich überrascht haben. Als das Buch beendet war, musste ich erst einmal tief durchatmen und eine Denkpause einlegen. Es hat mich tatsächlich sehr bewegt und berührt, Patch ist so ein Buchheld, der einem nicht nur im Buch ans Herz wächst, sondern einem auch danach noch eine ganze Weile nachgeht (nahegeht wäre auch richtig).
Das Zuhören ist angenehm, Richard Barenberg liest sehr intensiv und emotional und er lässt durch seinen Tonfall ein wahres Kopfkino entstehen. Der epische Umfang und der wunderbare Schreibstil (also die wunderbare Übersetzung durch Conny Lösch) haben eine ungeheure Anziehungskraft! Man kann sich die Protagonisten lebendig und actionreich vorstellen. Ein Drehbuchautor hätte sicher an diesem Buch seine wahre Freude, das Umsetzen in Bilder dürfte nicht schwerfallen. „Es wird nach einem happy end im Film jewöhnlich abjeblendt.“ (dichtete schon Tucholsky)

Fazit: Mir haben die Stunden „In den Farben des Dunkels“ sehr gut gefallen, auch wenn zwischenzeitlich etwas Trübsinn und Langeweile aufkamen. 600 Seiten Seite für Seite mit Spannung zu füllen, das ist kaum einem Schriftsteller möglich. Die Einordnung als Kriminalroman würde ich nicht vornehmen. Das Buch ist mehr als Kriminalfall, es ist Liebesroman, Familienroman, Künstlerroman, Gesellschaftsroman, man kann es so oder so lesen, jede Sichtweise ist fesselnd. Ich empfehle das Hörbuch gern, ob ich dieses dicke Buch auch gelesen hätte, ohne etwas zu überspringen, zu überblättern oder nur schnell einmal die Seiten querzulesen, das weiß ich nicht. Hörbuchkapitel kann man schlecht überspringen, man könnte ja etwas verpassen.

Gute 4 Sterne, Hörempfehlung