Große Gefühle im normannischen Sommer

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Véronique Olmi, _In diesem Sommer_, Verlag Antje Kunstmann, 272 Seiten, 18,95 €

Wie jedes Jahr seit 16 Jahren treffen sich 3 Paare in einem kleinen Dorf in der Normandie, um den 14. Juli, den französischen Nationalfeiertag, miteinander zu feiern: Denis und Delphine und ihre Kinder Alex und Jeanne, die jeweils einen Freund/eine Freundin mitbringen dürfen, Marie und Nicolas sowie Lola, die jedes Jahr einen anderen Liebhaber mitbringt. Diesmal ist es Samuel, ein Jungunternehmer, der Außenseiter der Gruppe, der in die Männerfreundschaft von Denis und Nicolas nicht eindringen kann. Die Freunde treffen sich im Haus von Denis und Delphine, alle wissen, was sie zu tun haben und was sie erwartet. Doch dieses Jahr ist alles anders: Als zusätzlicher Protagonist, eigentlich eine Randfigur, taucht Dimitri auf, ein junger Mann, der in den verschiedenen Mitgliedern der Gruppe unterschiedliche Empfindungen auslöst und das eine oder andere ins Rollen bringt.

Jeder der Protagonisten schleppt ein Geheimnis, ein verdrängtes Unglück mit sich herum. Lola hat in ganz jungen Jahren ihren Sohn zur Adoption abgegeben und kämpft seither mit Bildern von ihm in ihrem Kopf. Selbst die Arbeit als Kriegsreporterin kann dies nicht verdrängen, und auch die jungen Liebhaber trösten sie nicht über das entstandene Gefühl der Leere hinweg. Nähere Bindungen oder gar eine Ehe blockt sie ab, sie bleibt unnahbar. Es ist nicht geplant, dass Samuel den nächsten Sommer ebenfalls wieder dabei ist. Umso erstaunlicher, dass sie ihre Probleme ausgerechnet Dimitri erzählt, dem neuen Bekannten von Jeanne. Auch wenn er wenig dazu sagt, so fühlt sie sich doch verstanden, und es ist ein Gefühl der Befreiung. Lola ringt sich schließlich dazu durch, Samuel von ihrem Leid zu erzählen, und hat am Ende dadurch eine Chance auf ein Happy End.

Nicolas und Marie führen an sich eine glückliche Ehe, wenn da nicht seine Depressionen und ihre Erfolglosigkeit als Schauspielerin wären. Beide lieben sich, sagen sich jedoch nicht die Wahrheit über ihren wahren Gefühle und Ängste. Sie leidet unter Geldmangel, möchte jedoch auch keine Großmutter spielen, denn das bedeutet Altsein. Er hat eine schwere Depression und verheimlicht ihr den Grund dafür. Den kennt nur sein bester Freund Denis. Nicolas glaubt zunächst, in Dimitri den Bruder seiner Kollegin zu erkennen, und er glaubt, dass Dimitri den Selbstmord seiner Schwester rächen will, an dem sich Nicolas die Schuld gibt. Marie schwankt zwischen Annehmen der Rolle und Ablehnung. Beide stellen fest, dass sie auch in ihrer Beziehung lediglich eine Rolle spielen, sprechen sich am Ende aus und finden so wieder zueinander.

Denis und Delphine reden kaum noch miteinander und stehen kurz vor der Trennung. Er ist Generaldirektor, und beide schwimmen im Geld und im Luxus und sind doch grenzenlos unglücklich. Delphine nimmt sich Liebhaber, die ihr aber auf Dauer auch keine Erfüllung geben können, Denis verzieht sich in regelmäßigen Abständen in die Wüste, um dort fernab vom Trubel und vom Luxusleben in sich zu gehen. Beide Kinder buhlen um die Aufmerksamkeit der Mutter, die unfähig ist, sie ihnen zu geben. Die Annahme, Delphine sei zu keinen Gefühlen fähig, ist jedoch ein Trugschluss. Sie reflektiert am meisten und versucht sich über ihre Gefühle gegenüber den Freundinnen, ihren Kindern und vor allem zu ihrem Mann klar zu werden. Routiniert bereitet sie alles vor, die perfekte Gastgeberin, doch funktioniert sie nur automatisch. Denis verwechselt ihr Verhalten mit Gefühllosigkeit, sieht jedoch nicht ihr Unglücklichsein und hinterfragt es auch nicht. Um nicht verletzt zu werden, zieht er sich zurück. Diese Scheu vor der Auseinandersetzung und das Abblocken jedweder Annäherung treibt Delphine letztendlich dazu, am Ende der paar Tage in der Normandie zu bleiben, sprich: sich von Denis zu trennen. Das Haus in der Normandie und die kranke Kiefer – worauf sie Dimitri hinweist, was letztlich ihre Entscheidung begünstigt – wird für sie zum Ort der Geborgenheit und zu ihrer wüste, wo sie zu sich finden kann.

Dies ist kein action-reicher Roman, es passiert nicht so rasend viel. Auch das Verschwinden von Jeanne und die Aufregung hierum passieren spät und sind relativ schnell aufgelöst. Innerhalb der einzelnen Kapitel wechseln die Perspektiven, und der Leser erhält in kurzen Sequenzen sogar Einblick in das Seelenleben von Jeanne und Alex sowie von Rose, Jeannes Freundin. Dies ist ein Roman, der von den Beziehungen der Protagonisten untereinander und ihrer Gefühle füreinander lebt, ein Roman voll unterdrückter Gefühle und unausgesprochener Ängste. Definitiv kein leichter Sommerroman, der sich so mal eben „weglesen“ lässt. Komplexe Figuren mit tiefen Empfindungen, die alle eine gleich wichtige Rolle für die Handlung einnehmen. Erst durch diesen besonderen Sommer haben sich die Dinge verändert, hinterfragen alle ihre Beziehungen, treffen die Einzelnen wichtige Entscheidungen und öffnen sich für andere.

Fazit: Wer gute und schnelle Unterhaltung für den Sommerurlaub oder die Gartenliege sucht, ist hier falsch. Dazu liest es sich nicht leicht genug. Mir ist es als „Sommerlektüre“ zu melancholisch. All die unterdrückten Gefühle und Ängste können erdrückend wirken, die gute Laune der Protagonisten ist aufgesetzt, alle spielen eine Rolle, und man wünscht sich, dass die Menschen einfach mal offen miteinander reden. Wer aber an der Gefühlswelt dreier Middle-Aged-Paare interessiert ist und tief in deren komplexe Gefühlswelt eintauchen will, kommt absolut auf seine Kosten und wird zum Nachdenken angeregt.