Eine ungewöhnlich vielseitige Pionierin - mit Schwerpunkt auf der Beziehungsebene

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Rachel Carson (1907-1964) war in mehrerlei Hinsicht Pionierin, als Bildungsaufsteigerin aus bescheidenen Verhältnissen, Meeresbiologin und Autorin mehrerer Bestseller (Wunder des Meeres, Am Saum der Gezeiten, Unter dem Meerwind, Der stumme Frühling). Außergewöhnlich an ihrem Lebenslauf ist, dass ihre Familie sich das Geld für ihr Studium praktisch vom Mund absparte, sie ohne Stipendium (weil sie nicht Vollzeit studierte) ein Promotionsstudium begann und es abbrechen musste, um ihre 7-köpfige Familie zu ernähren. Die Eckpfeiler ihres Berufslebens bildeten eine halbe Stelle als Redakteurin für Informationsbroschüren beim amerikanischen Fish and Wildlife Department, eine freiberufliche Tätigkeit für die „Daily Sun“ und ihre bewusste Entscheidung gegen eine Ehe und für ihre Arbeit als Wissenschaftlerin. Besonders über die Bewertung von Carsons Tätigkeit durch männliche Kollegen, sie wäre nicht brillant, aber tüchtig, kann man aus heutiger Sicht nur den Kopf schütteln, wenn eben diese Herren sich nicht scheuten, die tüchtige Kollegin nach Strich und Faden für die eigene Karriere auszunutzen. Auch als Carson schon Radiotexte verfasst, wird ihr wieder das Urteil begegnen, dass verständliche naturwissenschaftliche Texte nur von einem Mann stammen könnten.

Carsons Leben wirkt – auch in diesem biografischen Roman – wie eine Reihung glücklicher und tragischer Zufälle. Diese Wirkung sehe ich kritisch; da sie die Wertung untermauert, Männer wären begabt, Frauen fänden zufällig Förderer und hätten daher keinen Anspruch auf diese Karrieren. Übersehen wird dabei, dass Carsons Arbeitgeber und Verlage von ihrem Talent nicht unerheblich profitierten, naturwissenschaftliche Zusammenhänge verständlich darzustellen. Dass Carson 1930 eine Stelle bei Fish & Wildlife in dem Moment antritt als Bürgern Arten- und Naturschutz auf Augenhöhe vermittelt werden soll, war für beide Seiten ein seltener Glücksgriff. Carson als Biologin und Sachbuchautorin zeigte sich verletzt, dass männliche Kollegen auf Fotos stets im weißen Kittel am Mikroskop dargestellt wurden, Carson trotz vergleichbarer Qualifikation jedoch als Privatperson. Zur Dominanz der Gefühlsebene und der Privatperson Carson in diesem Buch habe ich daher gemischte Gefühle und hätte mir mehr Berufsidentität gewünscht.

Ärgerlich finde ich, dass ausgerechnet ein optisch so gewinnendes Buch (mit illustriertem Einband) über eine pflichtbewusste und penibel arbeitende Wissenschaftlerin nicht fehlerfrei ist.

Fazit
Da der Roman sich auf die Beziehungs- und Gefühlsebene konzentriert, ordne ich ihn in den Bereich „Große Gefühle“.

Auf zwei Zeitebenen, dem für Carson und die Kritik am leichtfertigen Umgang mit DDT entscheidenden 3. April 1963 und dem Verlauf der Jahre 1930 bis 1962 erzählt Theresia Graw in der Ichform. Die Erzählform konnte mich besonders berühren und fesseln, weil sie in idealer Weise zeigt, wie Rachel Carson, als sie längst prominent ist, noch immer von Selbstzweifeln verunsichert wirkt und ihren Kompetenzen nicht traut. Das misogyne Urteil, Frauen wären keine Wissenschaftlerinnen und ledige Frauen hätten sich ohnehin nicht zu äußern, wirkte offenbar bis in ihrer 50er fort.