Freie Interpretation mit viel Gefühl

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Rachel Louise Carson sagte mir bislang wenig. Doch nach kurzer Recherche war klar: Ich wollte mehr über die Frau erfahren, die es im Alleingang mit der chemischen Industrie aufgenommen und gewonnen hat. Das Cover wirkt wildromantisch und zugleich friedlich - wie sich zeigt ein Sinnbild für unsere Protagonistin. Durch den Umschlag erhält es zudem eine Textur, die an Leinwand erinnert. Eine gelungene Aufmachung.

Der Roman stellt eindrucksvoll die möglichen Gedanken und Gefühle einer Rachel Carson von 1929 bis zu ihrem Tod dar. Die Erzählung schwankt zwischen poetisch, dramatisch und ergreifend wie sie dieses überaus wendungsreiche Leben wiedergibt. Zu Anfang schienen mir die Dialoge noch schleppend, wiederholt doch jeder nur, wie schwer sie es als Frau hat. Und tatsächlich kommt einem heute diese keine hundert Jahre vor unserer Zeit liegende Geschichte im Ausmaß ihrer Repression geradezu archaisch vor. Man stelle sich vor: Zwei Menschen können nicht heiraten, weil beide arbeiten wollen - damals praktisch Luxus, heute für viele blanke Notwendigkeit. So entwickelt sich dies auch zum Hauptmotiv des Buchs, was die anderen Qualitäten von Rachel Carson leider weniger gut zur Geltung kommen lässt, immerhin war sie keine Feministin, sondern Wissenschaftlerin, Autorin und Umweltschützerin. Für sich genommen hätte ich dem Roman nach Abschluss trotzdem noch fünf Sterne gegeben. Wer mit den folgenden Punkten keine Probleme hat, dem sei dieses sehr eindrucksvolle Buch daher wärmsten empfohlen.

Doch ich wollte mehr wissen, über ihr Leben und ihre Bücher. Im Nachwort gibt die Autorin zu bedenken, dass man sich in der Umsetzung "kleine Freiheiten" erlaubt habe. So ist der lebenslange Antagonist im Grunde eine Personifikation des Patriarchats. Damit kann ich mitgehen, statt immer wieder neue Personen einzuführen und dann nie wieder auftauchen zu lassen. Den erfundenen Freund sehe ich schon kritischer. Seine Relevanz in der Geschichte ist zu hoch und sein plötzliches Wiedererscheinen zu unglaubwürdig, wenn es ohne Vorbild frei erfunden ist. Stattdessen findet ihre Vertraute und historisch belegte Literaturagentin Marie Rodell keinerlei Erwähnung. Nicht überzeugen konnte mich auch die in ein Live-Duell umgewandelt Fernsehausstrahlung, die in kurzen Ausschnitten parallel zur restlichen Handlung läuft. Zum einen, weil der Schlagabtausch nicht den eigentlichen Höhepunkt des Buchs darstellt, zum anderen, weil in den kurzen Zwischenkapiteln Dinge vorweggenommen werden, die in der Geschichte noch gar nicht abgehandelt wurden.

Zu diesem Zeitpunkt war mir schon etwas mulmig. Aber nachdem ich mir die Daten in ihrem historischen Lebenslauf angesehen habe, war ich durchaus verwirrt.
SPOILER: Das Buch setzt 1929 nach Abschluss ihres Collegestudiums an. Doch leider kann sie ihre Promotion hier nicht antreten, weil just in diesem Moment der schwarze Freitag das Vermögen der Familie pulverisiert und den Vater das Leben kostet. Im Anschluss verdient sie sich beim Fischereiministerium mit dem Schreiben von Broschüren bis sie endlich die Chance erhält, die Radiosendung zu übernehmen.
VERGLEICH: Gemäß Lebenslauf beginnt sie nach ihrer Zeit in Woods Hole hingegen ein Universitätsstudium in Zoologie. Auch hier muss sie bereits arbeiten, jedoch erst als Assistentin und dann unterrichtet sie sogar an zwei anderen Universitäten. Nach Abschluss ihres Masters beginnt sie ihre Promotion, die sie erst 1934 abbrechen muss, um ihre Familie vollständig durch ihre Lehrtätigkeit zu unterstützen. Der Vater stirbt erst ein Jahr später. Gut 6 Jahre später als im Buch und mit einem zusätzlichen Masterabschluss in der Tasche kommt sie dann tatsächlich ans Fischereiministerium. Dort ist sie jedoch sofort für die Radiosendung zuständig. Erst durch ihre gute Arbeit erhält sie später eine Stelle als Biologin in Vollzeit und damit die Aufgabe, Broschüren für die Öffentlichkeit zu erstellen.

Sechs Jahre und ein Universitätsstudium erscheinen mir nicht als hätte man im Rahmen der literarischen Freiheit bloß etwas gestrafft. Vielmehr werden historische Fakten bunt gemischt, wodurch die Person Rachel Carson unnötig schwach und über die Maßen vom Schicksal, aber auch besonders der Männer, benachteiligt dargestellt wird. Dazu passt, dass sie im Buch eine lesbische Beziehung hat, was einer bestimmten Interpretation der historisch nicht eindeutigen Beweislage entspricht. Vielleicht ist das alles in allem die bessere Story, doch ich hätte mir mehr von der Präzision einer Rachel Carson gewünscht. So heißt es im Nachwort auch, sie sei die Begründerin der weltweiten Umweltschutzbewegung. Andere Quellen sind hier zurückhaltender und sprechen von der Politisierung der US-Umweltschutzbewegungen. Doch in einem sind sich alle einig, auch die echte Rachel Carson war eine der bedeutendsten Personen des letzten Jahrhunderts. Mit diesem Buch kann man sich ihr emotional annähern, doch erreichen wird man sie nicht.