Schlechte Mütter, gutes Buch

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Inhalt:
Frida Liu, eine chinesisch stämmige Akademikerin, hat einen "richtig schlechten Tag". Oder mit anderen Worten: Sie fühlt sich abgespannt und überfordert, sodass sie ihre einjährige Tochter Harriet zwei Stunden lang allein zuhause lässt, um kurz im Büro vorbeizuschauen. In Folge dessen wird sie von einem Nachbarn angezeigt und zu einem Fall für den Kinderschutz. Das bedeutet, dass alle elterlichen Rechte auf ihren Exmann und dessen neue Freundin übertragen werden, und Frida von einem Familiengericht dazu verurteilt wird, an einem neuartigen Programm teilzunehmen. In der Schule für gute Mütter werden Frauen, die der Staat für schlechte Mütter hält, ein Jahr lang mit Hilfe von KI-Puppen ausgebildet. Wenn Frida das Programm erfolgreich abschließen, hat sie eine Chance das Umgangs- und Sorgerecht für Harriet zurückzuerhalten, wenn sie durchfällt, verliert sie ihre Tochter für immer.

Meine Meinung:
Das Buch braucht etwas, um in sich hineinzuwachsen. Zu Beginn wird irritierend viel Zeit darauf verwendet, um Fridas Vorgeschichte zu erzählen. Diese Vorgeschichte scheint eine Verschmelzung aller Albträume einer jungen Mutter zu sein. Sie wirkt daher überzeichnet, fast schon schablonenhaft.
Diese Überzeichnung sehe ich in diesem konkreten Fall als ein Stilmittel, das die Autorin auch im weiteren Verlauf des Romans immer wieder bewusst einsetzt. Es sollen Stereotype von Müttern gezeigt werden, wie sie in der Gesellschaft häufig dargestellt und verurteilt werden. Frida ist einer dieser Stereotype, genauso wie viele andere der Mütter, die ihr später in der Schule für gute Mütter begegnen.
Diese Schule hat es in sich. Sie ist nichts für schwache Nerven. Die Methoden, mit denen die Mütter "trainiert" werden, sind mehr als zweifelhaft. Sie grenzen an Folter, Zwangsarbeit und Körperverletzung. Der Verwendung von lebensechten KI-Puppen als Kinderersatz hat mich gelegentlich an Ishiguro erinnert. Die Atmosphäre ist beklemmend und düster. Die Frauen sollen systematisch physisch, aber vor allem psychisch gebrochen werden.
Auch im Bezug auf das Programm in der Schule für gute Mütter ist das vorherrschende Stilmittel Übertreibung. Gesellschaftliche Anforderungen an eine "gute Mutter" und die klassischen Attribute, die mit diesem Bild assoziiert sind, werden herangezogen und bis zur Unkenntlichkeit verdichtet. Von den Frauen wird eine vollständige Aufgabe ihrer Selbst erzwungen. Keine Eitelkeit, keine Einsamkeit, keine Wünsche, kein Begehren. Besonders gefallen hat mir an dieser Stelle, dass das Buch immer wieder auch Rassismus, Armut, psychische Erkrankungen, Homophobie und die damit einhergehende Diskriminierung von Müttern anspricht. Anders kulturell geprägte Erziehungsstile sind beispielsweise nicht akzeptiert, lesbisch liebende Frauen gelten als unmütterlich.
Die Geschichte hat starke Emotionen in mir als Leserin ausgelöst. Ich war immer wieder schrecklich wütend, während ich sie gelesen habe. Leider mangelt es dem Buch an einer gesellschaftlichen Einordnung der Geschehnisse. So bleibt es schwer begreiflich, wie eine Gesellschaft eine so derart unwürdige Behandlung dieser Mütter zulässt. Wieso es keinen rechtlichen oder medialen Widerstand gibt. Es wird nicht recht gezeigt, was das für ein dystopisches Amerika ist, in dem sich so etwas ereignen kann. Bis auf die Schule und die KI-Puppen unterscheidet sich die Gesellschaft scheinbar so gut wie überhaupt nicht von der Welt, die wir kennen. Vor diesem Hintergrund bleibt die Härte und die Ungerechtigkeit des Systems schwer begreiflich.
Das Ende der Geschichte gefällt mir, ich halte es für rund, intelligent und folgerichtig (und habe die ein oder andere Träne geweint.) Fridas Zeit in der Schule wird sehr intensiv und detailliert beschrieben. Auf manche Lesende könnte das repetitiv wirken. Für mich war es trotzdem ein Pageturner, ich konnte es in der zweiten Hälfte kaum noch aus der Hand legen.

Fazit:
Ich denke "Institut für gute Mütter" ist ein provokantes Buch. Entweder man mag es oder nicht. Der überzeichnende Stil sagt sicher nicht jedem zu. So nehme ich auch die vielen sehr unterschiedlichen Bewertungen wahr. Ich bin selbst keine Mutter, aber immerhin Frau. Mich hat die Geschichte bewegt, aufgerieben und zum Nachdenken angeregt. Daher finde ich, es handelt sich sicher nicht um ein perfektes, aber doch um ein ziemlich gutes Buch.